
Seit fast zwei Jahren nimmt uns ein Thema in Beschlag wie wohl keines je zuvor. Corona beherrscht Gespräche, betrifft die grosse Welt ebenso wie unseren ganz normalen Alltag. Das Thema ist persönlich und hochpolitisch zugleich. Und dennoch wirkt sich die Jahrhundertkrise bislang nicht fundamental auf das politische Gefüge aus.
Die beeindruckende Anti-Massnahmen-Bewegung ist nach ihrer zweiten Niederlage beim Covid-Gesetz am Zerfallen. Eine neue starke Allianz zwischen rechtskonservativen und alternativen Skeptikern und Skeptikerinnen wird es mittelfristig nicht geben. Nur schon deshalb, weil zwischen diesen Milieus jenseits von Corona kaum tragfähige Gemeinsamkeiten bestehen. Selbst wenn das Mediengesetz beim kommenden Urnengang scheitert, lässt sich dies kaum mit einer neuen Macht der Skeptischen begründen. Schon 2015 erlitt das Radio- und TV-Gesetz um ein Haar Schiffbruch, und die aktuelle Vorlage macht es der Gegnerschaft noch leichter als die damalige.
Trotz historischer Tragweite ist die direkte Wirkung der Krise auf das politische Gefüge erstaunlich gering.
Corona ist ein politischer Scheinriese. Trotz historischer Tragweite ist die direkte Wirkung der Krise auf das politische Gefüge erstaunlich gering. «Freiheit» mag als Thema Wellen geschlagen haben, viel grösser ist jedoch die Sprengkraft, wenn Krisen die fundamentalere Dimension der «Sicherheit» treffen. Und hier hat die Pandemie bislang wenig erschüttert. Schon in der Zeit um und nach 1918 waren Weltkrieg und Russische Revolution politisch weitaus wirkungsmächtiger als die Spanische Grippe – obwohl Letztere eigentlich die grösste Bedrohung für Leib und Leben bedeutete.
Das fundamentale Sicherheitsempfinden treffen jedoch vor allem Gefahren, die von «anderen» ausgehen, die nicht zum Kreis der «eigenen» gehören. Krieg, Terrorismus, Kriminalität oder auch Migration lösen emotional mehr aus als ein Virus, das mittlerweile überall ist und dabei nicht zwischen vertraut und fremd unterscheidet. Am Ende braucht es immer ein echtes oder zumindest ein projiziertes Feindbild, um Sicherheitsfragen politische Sprengkraft zu geben.
Das Thema Sicherheit betrifft jedoch nicht nur innere und äussere Gefahren, sondern ebenso die wirtschaftlich-materielle Absicherung. Zumindest zu Beginn schien hier mit der Pandemie alles ins Rutschen zu geraten: Fallende Börsenkurse, gestörte Lieferketten, sistierte Aufträge wirkten wie Vorboten einer grossen Wirtschaftskrise. Doch dann öffnete der Staat seine Schleusen. Kurzarbeit, Kredite und Garantien stabilisierten das System, und bald schon befürchteten nur noch wenige einen Verlust ihrer Arbeitsstelle oder finanzielle Einbussen.
Die Bevölkerung scheint immer immuner gegen klassische Wirtschaftsargumente zu werden.
Betroffen blieben vor allem Personen in prekären Arbeitssituationen. Für den breiten Mittelstand hat die Corona-Krise bislang das fundamentale Sicherheitsempfinden kaum erschüttert. Die Pandemie erscheint politisch deshalb grösser, als sie tatsächlich ist. Zumindest wenn wir ihre indirekte Wirkung ausklammern.
Politisch am mächtigsten ist die indirekte Wirkung der Pandemie. Die Erfahrung, dass staatliche Massnahmen in einer Phase grösster Verunsicherung Sicherheit und Vertrauen schaffen, wirkt sich unmittelbar auf das Verständnis von Staat und Wirtschaft aus. Zwar gab es keine Grosse Depression, die Wirkung der Corona-Interventionen ist jedoch vergleichbar mit jener von Präsident Roosevelts «New Deal» in den 1930er-Jahren, welcher eine Epoche aktiver Interventions- und Sozialpolitik begründete.
Nicht Verschwörungstheorien, Wissenschaftsskepsis und neue Freiheitsfreunde sind am Ende wohl die wirklich relevanten politischen Folgen der Pandemie. Nicht das Referendum gegen das Mediengesetz, sondern die Abfolge von Konzernverantwortungs-, Pflege- und Anti-Tabak-Initiative sind Ausdruck unserer Zeit. Die Bevölkerung scheint immer immuner gegen klassische Wirtschaftsargumente zu werden – und dies ausgerechnet auch in der traditionell so wirtschafts- und unternehmensfreundlichen Schweiz.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Kolumne Michael Hermann – Corona – ein politischer Scheinriese
Trotz Verschwörungstheorien und neuen Freiheitsfreunden: Staatliche Massnahmen haben in einer Phase grösster Verunsicherung Sicherheit und Vertrauen geschaffen.