Interview zu Netflix-SerieDarf man Menschen mit Autismus beim Daten zuschauen?
«Liebe im Spektrum» begleitet Personen mit Autismus bei ihrer Suche nach der grossen Liebe. Doch ist die Hitserie voyeuristisch? Eine Fachperson ordnet ein.

Der 26-jährige Michael möchte sich unbedingt verlieben. Dafür legt sich der selbst ernannte Gentleman ordentlich ins Zeug: Zu Rendez-vous erscheint er stets in Anzug und Krawatte, bringt seinem Date Blumen mit und zieht ihr den Stuhl zurück. Doch die Partnersuche ist nicht leicht – insbesondere nicht für den Australier, der mit einer Autismus-Spektrum-Störung lebt. Denn wie so viele andere Menschen mit Autismus hat Michael mit der komplizierten und unvorhersehbaren Datingwelt zu kämpfen.
Cian O’Clery, ein australischer Regisseur und Produzent, hat Michael und andere junge Menschen mit Autismus zusammen mit Jodi Rodgers, einer Fachfrau für Autismus, bei ihrer Suche nach der grossen Liebe begleitet. Die daraus entstandene Hitserie «Liebe im Spektrum» läuft seit 2019 auf Netflix; die zweite Staffel folgte im September.
Eine Realityshow über Menschen mit Autismus? Das mag erstaunlich klingen, doch die Serie ist nicht wie die üblichen Trash-Datingshows auf Netflix. Bei «Liebe im Spektrum» gibt es keine dramatischen Eliminationsrunden, keine Regeln und keinen Preis. Dennoch fragt man sich: Darf man Menschen mit Autismus überhaupt beim Daten zuschauen? Barbara Wegrampf-Schütz arbeitet als Autismusfachperson und gibt Auskunft.
Frau Wegrampf-Schütz, wie war Ihr Eindruck, als Sie die Netflix-Serie «Liebe im Spektrum» geschaut haben?
Ich habe beide Staffeln der Show gesehen, und mir ist aufgefallen, dass in der zweiten Staffel auch Personen aus der ersten Staffel dabei sind. Dies zeigt, wie komplex und schwierig die Partnersuche auch bei Menschen mit Autismus ist. Ich sage bewusst «auch», weil sie bei neurotypischen Menschen, also Menschen, die nicht auf dem Autismus-Spektrum sind, ebenfalls nicht einfach ist – vor allem in Zeiten von Corona.
Wie ist es für Menschen mit Autismus, zu daten? Was für Hürden gibt es?
Es ist sicherlich schwieriger. Menschen auf dem Spektrum lieben Vorhersehbarkeit und haben oft Mühe mit neuen Situationen. Daten erfordert sehr viel Flexibilität, soziale Kompetenzen und auch Empathie. Das sind Fähigkeiten, welche wir neurotypischen Menschen wie nebenbei im Laufe unseres Lebens erlernen. Menschen auf dem Spektrum müssen diese sozialen Regeln mühsam erlernen. In der zweiten Staffel versucht ein junger Mann mit Autismus, an einem Speeddating teilzunehmen. Dort hat man gemerkt, wie schwierig es für ihn war, in ein Gespräch zu kommen. Es herrscht noch ein Mangel an Wissen über die Bedürfnisse der Menschen mit Autismus in unserer Gesellschaft, und somit können neurotypische Menschen ihr besonderes Verhalten nicht richtig interpretieren. So kann zum Beispiel fehlender Blickkontakt als mangelndes Interesse verstanden werden.
In der Serie haben viele Menschen mit Autismus eine sehr klassische Schwarz-Weiss-Vorstellung von Liebe und Romantik. Woher kommt das?
Menschen mit Autismus orientieren sich oft stark an Regeln oder Strukturen. Ihr Denken ist häufig «schwarz-weiss», und es fällt ihnen schwer, Kompromisse einzugehen. Man sieht in der Show, dass Menschen mit Autismus oftmals Filme schauen und Bücher lesen, um sich besser vorstellen zu können, wie die Liebe und eine Beziehung aussehen. Und wenn es dann im echten Leben nicht ihrer Vorstellung entspricht, sind sie enttäuscht und haben Probleme, mit der neuen Situation umzugehen. Klar, wir stellen uns auch vor, wie etwas ablaufen sollte. Aber wir haben eine schnelle Anpassungsfähigkeit und können intuitiv reagieren, wenn uns etwas nicht passt.
Repräsentiert die Serie Menschen mit Autismus auf eine authentische Art und Weise?
Die Serie zeigt, dass es nicht «die» Person mit Autismus gibt und dass der Zusatzbegriff «Spektrum» immens wichtig ist. Denn wenn ich eine Person mit Autismus kenne, muss mir bewusst sein, dass sie genauso individuell ist wie Menschen, die nicht auf dem Spektrum sind. Doch es ist auch wichtig, zu verstehen, dass die Serie nur einen kleinen Ausschnitt des riesengrossen Autismus-Spektrums zeigt. So gibt es Menschen mit Autismus, die keine Lautsprache haben, oder einzelne, welche zusätzlich eine geistige Behinderung haben. Es gibt aber auch solche, die im Alltag kaum Unterstützung brauchen.
Was sind die Gefahren bei einer Reality-TV-Show über Menschen mit Autismus? Werden sie hier vorgeführt?
Ich finde, dass die Betroffenen in der Show sehr sensibel befragt und porträtiert werden. Auch ihre Wünsche und Herausforderungen werden mit Würde und Ernsthaftigkeit besprochen und angegangen. Es ist auch sehr schön, zu sehen, wie ihre Eltern und die Coachingperson sie bei dieser sehr langen Suche nach Liebe und Partnerschaft unterstützen und sie bei einer Enttäuschung auch wieder auffangen. Die Show ist also meiner Meinung nach sehr gut gemacht und auch schön gefilmt.
Ist es überhaupt in Ordnung, Menschen mit Autismus beim Daten zuzuschauen, oder ist das schon voyeuristisch?
Bei solchen Produktionen ist es immer eine Frage, mit welcher Haltung sie dann von den Zuschauern angeschaut werden. Wenn man die Serie aus tiefem Interesse schaut, um die Menschen besser zu verstehen, zu unterstützen und mehr Verständnis für dieses Thema zu bekommen, ist es nicht voyeuristisch. Leider besteht auch die Gefahr, dass manche Leute sich darüber lustig machen. Die Teilnahme an der Serie ist freiwillig, und ich hoffe, dass die Betroffenen und deren Angehörige sich über die Konsequenzen bewusst sind.
Das Liebesleben von Menschen mit Autismus wird in der Populärkultur zunehmend thematisiert, zum Beispiel in der Netflix-Serie «Atypical», in der es um einen Jungen mit Autismus geht. Woher kommt dieser Trend?
Was der Mensch nicht kennt, das fasziniert ihn. Das Thema Autismus ist momentan sehr präsent. Autismus wird heute früher erkannt, und die Betroffenen bekommen oftmals schon in ihrer Kindheit eine Diagnose. Dementsprechend werden sie schon früher gefördert und unterstützt – leider immer noch nicht ausreichend, da es noch zu wenig Anlaufstellen für jedes Alter gibt. Doch dadurch, dass es mehr Diagnosen gibt, wird das Thema vermehrt in der Gesellschaft aufgegriffen, auch in der Schule und in der Arbeitswelt.
Müssen Menschen mit Autismus bei der Partnersuche wie auch in der Serie von Experten begleitet werden?
Man darf dies nicht generalisieren. Ich finde es aber sehr wichtig, dass die Menschen mit Autismus, welche Hilfe benötigen, bei der Partnersuche von einem Experten oder einer Expertin begleitet werden. Denn Datingplattformen allein reichen in solchen Fällen einfach nicht aus. Sie brauchen effektive Hilfe durch Fachpersonen oder ihr Umfeld, die sie vorbereiten, aber auch auffangen können, wenn etwas nicht klappt. In solchen Situationen ist eine Kontextualisierung wichtig, sodass Menschen auf dem Spektrum wahrnehmen, dass das nicht allein an ihrem Autismus liegt – Abweisung oder Enttäuschung erfahren alle Menschen beim Daten.
Gibt es in der Schweiz solche Coachingpersonen? Und wie siehts aus mit Datingmöglichkeiten wie speziellen Apps oder Blind Dates?
Nein, hierzulande gibt es keine autismusspezifischen Datingplattformen. Es gibt Sozialkompetenztrainings und vereinzelte Therapeuten, welche individuelle Unterstützung anbieten, aber es gibt nichts, was im Moment auf Dating spezialisiert wäre. Um das weiterzuentwickeln, bräuchte es Ressourcen. In den USA, Grossbritannien und Australien sind sie diesbezüglich sicher sehr viel weiter als wir. Es gibt in der Schweiz noch deutlich mehr zu tun, sei dies in der Frühförderung, in der Schule, in der Berufswelt – eigentlich in allen Lebensphasen.
«Liebe im Spektrum» kann auf Netflix gestreamt werden.
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