Lockerung der Hygieneregeln?«Desinfizieren und Händewaschen haben an Bedeutung verloren»
Ständige Handhygiene und das Reinigen von Oberflächen gehören mittlerweile fix zu unserem Alltag. Ist aber in dem Ausmass gar nicht mehr nötig, sagen Experten und Gesundheitsbehörden.

Hände waschen, Hände desinfizieren, möglichst keine Türfallen berühren und schon gar keine anderen Menschen. Mit der Corona-Pandemie hat die Handhygiene immens an Bedeutung gewonnen. Während zuvor die Hände wohl eher zu wenig gewaschen wurden, ist es jetzt teilweise zu viel, wie Dermatologen berichten.
Und ständiges Händewaschen sei auch gar nicht mehr nötig, erklärt Walter Popp, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene. In einem «Spiegel»-Artikel zum Ansteckungsrisiko mit der Mutation B.1.1.7 sagt der Experte: «Das Desinfizieren und Händewaschen hat in der Pandemie an Bedeutung verloren.» Zu Beginn sei es noch wichtig gewesen, weil nicht klar war, wie es zu Covid-Infektionen komme. Mittlerweile sei aber klar, dass die Übertragung hauptsächlich über die Luft stattfinde; das Risiko, sich über Oberflächen anzustecken, sei minimal.
Auf Anfrage erläutert der Spitalhygieniker, dass er sich nicht vorstellen könne, wie eine Übertragung über die Hände überhaupt funktionieren soll: «Da muss also jemand auf eine Fläche husten, und man fasst dann dort hin, kontaminiert sich ja wahrscheinlich nur die Fingerspitzen, und auch nur ein Teil der Viren wird an diesen haften bleiben. Und dann muss man noch schauen, wie man jetzt die Viren in Mund und Nase kriegt. Das wird ja eher selten der Fall sein, und am Ende werden es dann doch zu wenige Viren sein», erklärt Popp. Man müsste sich also fast extra dumm anstellen, um sich über die Hände zu infizieren.
Ein Freipass, um die Hände gar nicht mehr zu waschen, ist das natürlich nicht. «Händedesinfektion und Händewaschen machen immer Sinn», präzisiert Popp, «aber unabhängig von Corona.» Die gewohnte Hygiene nach der WC-Sitzung, vor dem Kochen oder vor dem Essen ist also weiterhin wichtig. Popp rät auch, beim Nachhausekommen immer die Hände zu waschen, auch um sich vor anderen Viren zu schützen. «Aber eine grosse Rolle beim Schutz vor Sars-CoV-2 spielt es nicht, das trifft auch auf die Mutante B.1.1.7 zu», sagt der Hygieneexperte.

Beim Bundesamt für Gesundheit hat man diesbezüglich noch keine Anpassungen vorgenommen. «Händewaschen spielt eine entscheidende Rolle bei der Hygiene», heisst es auf der BAG-Seite weiterhin. «Indem Sie Ihre Hände regelmässig mit Seife sorgfältig waschen, können Sie sich schützen.» Hinweise, dass man sich die Hände nicht mehr ständig waschen muss, gibt allerdings die darauf folgende Anweisung: «Waschen Sie die Hände, wenn Sie nach Hause kommen, nach dem Schnäuzen, Niesen oder Husten oder bevor Sie essen oder Essen zubereiten.» Also eine grundsätzliche Hygiene, die auch ohne Corona sinnvoll ist.
Zu den Aussagen von Walter Popp zum Händewaschen gibt das BAG auf Anfrage keine Antwort. Auch andere Schweizer Experten und die Science Taskforce antworteten nicht auf entsprechende Anfragen zur Handhygiene.
Erste Studien waren unrealistisch
Dass die Wissenschaft den Behörden um Monate voraus ist, kann man auch bei den Oberflächen beobachten. Seit über einem Jahr wird vielerorts ständig alles geputzt und desinfiziert, seien es Tische, Stühle, Theken oder Griffe von Einkaufswagen. Experten nannten das schon im letzten Sommer ein «Hygiene-Theater», ausgelöst durch mehrere Studien, die im März 2020 feststellten, dass Covid-19 auf Oberflächen mehrere Tage überleben soll.
Im Nachhinein wurde aber klar, dass die Wissenschaftler mit unrealistisch hohen Virusmengen experimentierten. Schon im Juli 2020 war vielen Hygienikern klar, dass unter realen Bedingungen eine Infektion über Oberflächen sehr unwahrscheinlich ist. Im Magazin «Atlantic» erklärte ein Experte damals bereits, dass 100 infizierte Personen genau auf die gleiche Stelle eines Tisches niesen müssten, um eine Virusmenge zu erreichen, welche in den ersten Studien verwendet wurde.
Krankenhaushygieniker Popp sagt: «Anfangs kannte man die Übertragungswege nicht so genau, aber mittlerweile wissen wir, dass das Risiko, sich über Oberflächen anzustecken, minimal ist.» Den Einkaufswagen zu desinfizieren, sei deshalb nicht nötig. Selbst wenn jemand in seine Hand niesen würde und dann direkt den Einkaufswagen anfasse, sei eine Übertragung auf eine andere Person sehr unwahrscheinlich.
«Hygiene-Theater» vorbei?
Das ist mittlerweile auch bei den amerikanischen Behörden angekommen, wie die «New York Times» schreibt. Die Centers for Disease Control (CDC) hätten Anfang April ein wissenschaftliches Update dazu veröffentlicht, die Ära des «Hygiene-Theaters» sei damit wohl vorbei. Ganz so locker sehen es die Behörden aber doch nicht, sie bleiben wie in den letzten Monaten der Pandemie doch noch vorsichtig: Im neuen «Science-Brief» steht, dass sich Personen wohl über Oberflächen mit Sars-CoV-2 infizieren könnten, das Risiko sei aber gering. Desinfizieren sei nun vor allem empfohlen, wenn sich in den letzten 24 Stunden eine angesteckte Person in einem Raum aufgehalten habe.
Die CDC beschreiben, wie sich die wenigen dokumentierten Ansteckungen über Oberflächen ereignet haben sollen: Eine infizierte Person kontaminierte demnach wohl einen Bereich durch Husten oder Niesen, wonach eine andere Person diesen Bereich berührte und sich dann direkt in den Mund, die Nase oder die Augen fasste. Dies könne mit Maskentragen verhindert werden oder wenn man sich wie empfohlen nicht direkt in den Mund, die Nase oder die Augen fasse.
Aerosolforscher würde «jeden umarmen»
Händewaschen und das Reinigen von Oberflächen dürften also wieder auf ein normales Mass heruntergefahren werden, sagen Experten, während Behörden ihre Empfehlungen nur vorsichtig oder gar nicht anpassen. Was bleibt, ist, dass Körperkontakt nicht gern gesehen wird; das BAG empfiehlt weiterhin, Händeschütteln zu unterlassen, auch der Fistbump ist bei den Schweizer Behörden verpönt.
Krankenhaushygieniker Walter Popp glaubt, dass nach der Pandemie wieder Hände geschüttelt werden, dass dies nicht vollständig aufhört, auch wenn man es eigentlich nicht brauche. «Ich sehe auch nicht, warum es ein besonders imposanter Ausdruck unserer kulturellen Identität sein sollte», erklärt Popp. Wie es langfristig damit weitergehe, sei Spekulation, «aber ich könnte mir vorstellen, dass man im Gesundheitswesen die Devise ausgibt, dass man Hände nicht mehr schüttelt».
«Womit man auf jeden Fall aufhören sollte, ist dieses Bussigeben, das bei uns eingerissen war», sagt der Hygieneexperte. Während die Begrüssungsküsse also wohl noch länger – oder für immer? – auf der schwarzen Liste bleiben dürften, gibt es aber Hoffnung für alle, die Umarmungen vermissen. So sieht Aerosolforscher Martin Kriegel von der Technischen Universität Berlin bei einer kurzen Umarmung kein erhöhtes Risiko, wobei er dies gleich selbst relativiert: «Zumindest nicht risikoreicher, als sich ohne Maske in einem Raum aufzuhalten», erklärt er im «Spiegel». Kriegel sagt: «Ich würde jeden umarmen. Aber ich würde mich nicht mit jedem für längere Zeit in einem Innenraum treffen.» Wer sich also zum Kaffeekränzchen im Wohnzimmer trifft und dabei wegen der Pandemie auf die Umarmung verzichtet, schätzt die Risiken demnach falsch ein. Lieber sollte man sich kurz umarmen und den Kaffee mit etwas Abstand auf dem Balkon schlürfen.
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