Europäischer Gerichtshof für MenschenrechteDas ist unser neuer Mann für Strassburg
SP-Mann Andreas Zünd steht kurz davor, der mächtigste Richter des Landes zu werden – als einziger Vertreter der Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Andere in seinem Alter sind dabei, ihre Pensionierung vorzubereiten. Doch Bundesrichter Andreas Zünd steht mit 64 Jahren kurz davor, ins höchste Amt aufzusteigen, das ein Schweizer Jurist überhaupt erreichen kann: ein Sitz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Zwar findet die offizielle Wahl des einzigen Schweizer Richters in Strassburg erst am nächsten Dienstag statt, in der parlamentarischen Versammlung des Europarats, die Corona-bedingt teilweise online tagen muss. Doch die wohl vorentscheidende Hürde hat Zünd soeben genommen: Der 22-köpfige Richterwahlausschuss des Europarats empfiehlt Zünd zur Wahl – in einem Einervorschlag und «mit überwältigender Mehrheit», wie der Ausschuss auf seiner Website präzisiert.
Zünds wahrscheinliche Wahl hat eine historische Dimension.
Zünds wahrscheinliche Wahl hat eine historische Dimension. Vor ihm gab es erst fünf Schweizer Richter in Strassburg. Und vier von ihnen waren keine Berufsrichter, sondern Rechtsprofessoren – so auch die bisherige Amtsinhaberin Helen Keller.
Erst ein Schweizer in Strassburg war zuvor Bundesrichter: Antoine Favre (CVP), der in den 1960er-Jahren in Strassburg urteilte, in einer Zeit, als der EGMR noch nicht seine heutige Bedeutung hatte. Wie gross diese Bedeutung heutzutage ist, hat die Schweiz erst diese Woche wieder erfahren: Am Dienstag wurde ein Urteil publik, in dem der EGMR ein vom Kanton Genf verhängtes Bettelverbot als Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention taxierte.
Nur ein Sitz für die Schweiz
Die Schweiz kann immer nur einen Richter oder eine Richterin nach Strassburg entsenden – so wie alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarats. Schon Ende 2019 hat der Bundesrat drei Kandidaten für Helen Kellers Nachfolge nominiert: Neben Zünd waren dies der SVP-Bundesrichter Nicolas von Werdt sowie Marianne Ryter (SP), die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts.
Doch die Wahl im Europarat, eigentlich im Juni 2020 vorgesehen, hat sich wegen Corona erheblich verzögert. Erst am letzten Freitag konnten sich die drei Kandidierenden endlich einer Online-Anhörung vor dem Richterwahlausschuss stellen. Dabei hat Zünd seine Konkurrenten nun überraschend deutlich ausgestochen.
Am Bundesgericht arbeitet Zünd seit fast 17 Jahren. In dieser Zeit stieg er in Lausanne zu einer der prägenden Figuren auf. Selbst Juristen, die seine Rechtsauffassung nicht immer teilen, anerkennen, Zünd sei «sehr gescheit» und ein guter Jurist. Im Vergleich zu anderen Bundesrichtern publiziert er auch überdurchschnittlich viele Fachartikel und -bücher – meist zu Staatsrecht, Verfassungs- und Menschenrechtsfragen, also genau zu jenen Themen, die am EGMR im Zentrum stehen.
In Lausanne gehört Zünd der zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung an, die für rechtspolitisch bedeutsame Gebiete zuständig ist. Deshalb sorgte sie wiederholt mit kontroversen Fällen für Schlagzeilen. So war Zünd 2012 und 2015 an zwei Urteilen beteiligt, die der Menschenrechtskonvention und dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU Vorrang einräumten vor der vom Volk angenommenen Ausschaffungsinitiative.
Für Zünd ist die Menschenrechtskonvention die zentrale Grundlage für die Rechte der Menschen.
Diese Urteile sorgten damals für massive Kritik aus rechten Kreisen – und waren mitentscheidend dafür, dass die SVP ihre Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» lancierte (die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative wurde später vom Volk deutlich abgelehnt). Anfang 2020 sass Zünd auch im Gerichtssaal, als der CVP-Bundesrichter Thomas Stadelmann ihm und anderen Bundesrichtern vor Publikum vorwarf, eine aktivistische Rechtsauslegung zu betreiben und so Politik zu machen.
Für solche Kritik hat Zünd kein Verständnis. Als Richter zähle seine eigene Meinung nicht, sagt er. «Aufgabe eines Richters ist es, das geltende Recht anzuwenden, dabei keinen Pressionen nachzugeben und sich nie von der politischen Stimmungslage leiten zu lassen.» Bei der Rechtsprechung gehe es immer darum, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen – egal ob dieses Recht in innerstaatlichen Gesetzen stehe oder in internationalen Verträgen, denen die Schweiz beigetreten sei.
Für Zünd ist die Menschenrechtskonvention die zentrale Grundlage für die Rechte der Menschen in ganz Europa. Der Gerichtshof in Strassburg sei dazu da, «zu überprüfen, ob die der Konvention angeschlossenen Staaten die Rechte der Menschen respektieren oder nicht».
Vom Gemeindeparlament nach Strassburg
In seiner Kindheit prädestinierte Zünd wenig für eine Richterkarriere: Seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Lehrer. Aufgewachsen ist er im aargauischen Freiamt. Das Jus-Studium und das Anwaltspatent machte Andreas Zünd in Bern, kehrte dann aber für sein Anwaltspraktikum zurück ins Freiamt.
Dort stieg er vorübergehend in die Lokalpolitik ein; als Vertreter der SP gehörte er ein paar Jahre dem Einwohnerrat von Wohlen und dem Bezirksschulrat an. Dann schlug er seine Richterkarriere ein, die ihn zunächst ans aargauische Obergericht in Aarau, ans Bundesgericht in Lausanne und nun voraussichtlich an den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg führt.
Die Richter in Strassburg können nur eine Amtszeit absolvieren, die in der Regel neun Jahre dauert. Da der Gerichtshof aber eine Altersguillotine von 70 Jahren kennt, wird für Zünd nach spätestens sechs Jahren Schluss sein.
Markus Häfliger ist Bundeshausredaktor und Reporter bei der Seite Drei.
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