EU entscheidet über Corona-HilfenDer Gipfel der Wahrheit
Gewinnt die Solidarität, oder überwiegen die nationalen Interessen? Die Staats- und Regierungschefs der EU entscheiden morgen, wie der Wiederaufbau nach der Corona-Krise finanziert werden soll.

Charles Michel gibt sich in seinem Einladungsbrief zum vierten virtuellen EU-Gipfel seit Ausbruch der Corona-Krise vorsichtig diplomatisch: «Mein Vorschlag ist, dass wir einen Europäischen Wiederaufbaufonds möglichst rasch etablieren», schreibt der EU-Ratspräsident an die Staats- und Regierungschefs. Dabei ist kaum mehr umstritten, dass es «recovery funds» gegen die drohende Wirtschaftskrise braucht. Tiefe Gräben tun sich allerdings bei Umfang und Finanzierung des Fonds auf.
Charles Michel will vor der Videokonferenz am Donnerstag wohl keine falschen Erwartungen wecken und seine Rolle als neutraler Vermittler nicht gefährden. Denn wenn nicht alles täuscht, steht die EU ähnlich wie während der Eurokrise wieder einmal vor einem Schicksalsgipfel. Erinnern sich die Mitgliedsstaaten an den europäischen Geist der Solidarität, oder setzen sich die nationalen Interessen durch? Nicht nur Emmanuel Macron spricht von einem «Moment der Wahrheit» und sieht die Existenz der EU in Gefahr. Es gehe darum, zu entscheiden, ob die EU ein politisches Projekt oder nur ein gemeinsamer Markt sei. Transfers und Solidarität seien nötig, damit Europa erhalten bleibe.
Die Südeuropäer wollen Corona-Bonds
Frankreichs Präsident hat im Vorfeld zusammen mit Italiens Regierungschef Giuseppe Conte und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez auf eine gemeinschaftliche Finanzierung gedrängt. Bei den sogenannten Corona-Bonds würden alle für alle haften. Die Südeuropäer könnten dabei von den niedrigen Zinsen und der Bonität der Nordeuropäer profitieren. In Berlin, Den Haag und Helsinki werden aber europäische Anleihen vehement abgelehnt. Beide Seiten müssen auf die Stimmung in ihren Ländern Rücksicht nehmen.
So dürften die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in ihren Parlamenten für Corona-Bonds keine Mehrheiten bekommen. Und im Prinzip verstossen europäische Schuldscheine gegen EU-Recht. Deshalb wäre wohl eine langwierige Vertragsänderung nötig, mit unsicherer Ratifizierung in allen Parlamenten. Doch es geht um viel: «Wir erleben gerade einen historischen Moment, der einen politischen Quantensprung verlangt», sagte Italiens Giuseppe Conte im Interview gegenüber dieser Zeitung. Er sei ähnlich wie Emmanuel Macron überzeugt, dass das europäische Projekt auf dem Spiel stehe.
Die berechtigte Sorge der Südeuropäer ist, dass die Eurozone nach der Corona-Krise gefährlich auseinanderdriftet. So können sich die Nordeuropäer den Wiederaufbau aus eigener Kraft leisten. Deutschlands Verschuldung würde nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds um 9 Punkte auf 69 Prozent der Wirtschaftsleistung ansteigen und in den Niederlanden um 10 Punkte auf 58 Prozent. Ähnlich könnten Österreich, Finnland, die Slowakei und die baltischen Staaten die Krise wegstecken. Italiens Schuldenberg würde hingegen um 21 Punkte auf 156 Prozent und Spaniens um 18 Punkte auf 113 Prozent zunehmen. Auch Frankreich, Portugal und Belgien hätten an der Last schwer zu tragen.
Europa ist fragmentiert
Deutschland habe schon jetzt siebenmal mehr Mittel als Antwort auf die Krise bereitstellen können als Italien, das deutlich härter getroffen sei, sagte der portugiesische Finanzminister Mário Centeno vor dem EU-Parlament. Und warnte davor, dass die Fragmentierung der Eurozone den Binnenmarkt und die Einheitswährung zu untergraben drohe. Möglicherweise wären aber zumindest kurzfristig die politischen Folgen bedrohlicher, wenn im Norden die Rückkehr zur Normalität rasch gelingt und der Süden in der wirtschaftlichen Misere versinkt.
Italiens Premier Conte wird am Gipfel wohl noch einmal für Corona-Bonds kämpfen. Doch inzwischen zeichnen sich kompromissfähige Alternativen ab, von Emmanuel Macron und Spaniens Premier Sánchez ins Spiel gebracht. So könnte die EU-Kommission, über den gemeinsamen Haushalt und durch Garantien der Mitgliedsstaaten abgesichert, 1,5 Billionen für die «recovery funds» mobilisieren. Gut möglich, dass es am Ende gemeinsame Schuldtitel gibt, die allerdings nicht Corona-Bonds heissen dürfen. Es gebe einen Konsens, dass alle Mitgliedsstaaten beim Neustart nach der Krise die gleichen Chancen haben müssten, sagte ein hoher EU-Diplomat. Der Wiederaufbau müsse quer durch Europa symmetrisch erfolgen. Es werde eine Mischung aus Krediten mit sehr langen Laufzeiten und nicht rückzahlbaren Hilfen sein.
Am Donnerstag werden sich die Staats- und Regierungschefs wohl vorerst nur auf die groben Leitlinien einigen und der Kommission den Auftrag erteilen, die Details auszuarbeiten. EU-Ratspräsident Charles Michel wird nach der Videokonferenz darauf pochen, was Europa unabhängig vom Wiederaufbaufonds an Soforthilfen bereits beschlossen habe. Nämlich Unterstützung für Kurzarbeiter, Kredite für Unternehmen und Mitgliedsstaaten in der Höhe von 500 Milliarden Euro. Dieses Sicherheitsnetz soll am 1. Juni bereit sein. Der Wiederaufbaufonds soll spätestens Anfang Januar verfügbar sein. «Wir brauchen etwas Kreativität, aber wir sind noch nicht am Ziel», so ein hoher EU-Diplomat. Die Staats- und Regierungschefs seien sich dabei bewusst, dass sie keine Zeit zu verlieren hätten.
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