Steigende Corona-Zahlen in GrossbritannienDer Traum von einem sorglosen Sommer droht zu platzen
Die Regierung schliesst nicht aus, die für Juni geplante grosse Öffnung zu verschieben. Und für den Herbst fasst London sogar eine dritte Impfung ins Auge.

Die indische Variante des Coronavirus habe einen «Wachstumsvorteil» von rund 40 Prozent, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag. Man sei «offen» dafür, das geplante Ende aller Corona-Massnahmen am 21. Juni zu verschieben. Der führende britische Covid-Forscher Neil Ferguson fürchtet gar, dass der offiziell Delta genannte Virustyp «möglicherweise 60 Prozent leichter übertragbar» sein könnte. Die Virusvariante B.1.617.2 ist bereits für 75 Prozent aller Infektionsfälle im Vereinigten Königreich verantwortlich.
Gegenwärtig verdoppelt sich die Zahl der Neuinfektionen mit dem Delta-Virus laut Ferguson alle neun Tage, und es sei schon eine Beschleunigung dieser Entwicklung abzusehen. In einigen Regionen, wie im englischen Nordwesten, haben sich Hotspots gebildet, die für eine rasche lokale Ausbreitung des Virus und mancherorts bereits für mehr Spitalfälle sorgen. In Blackburn, einem der besonders betroffenen Bezirke nördlich von Manchester, warnt die örtliche Gesundheitsbehörde, wenn nicht schnellstens Massnahmen ergriffen würden, würden die dortigen Kliniken binnen drei bis vier Wochen «von Covid überschwemmt».
Nach einer Analyse von 38’800 Fällen kam Public Health England zu dem Schluss, dass bei der Delta-Variante das Risiko einer notwendig werdenden Klinikeinlieferung um das Zweieinhalbfache höher liegt als bei der Alpha-Variante (der «britischen Variante»). Neue Daten aus Schottland weisen ebenfalls auf ein mindestens doppelt so hohes Risiko ernster Erkrankung hin. Ein zusätzliches Problem ist laut der Regierung durch das Auftauchen einer neuen Mutation der indischen Variante entstanden, die als Nepal-Variante bekannt geworden ist – und von der es mehr als 20 Fälle in Grossbritannien geben soll.
Bisher hatte die Regierung gehofft, dass die hohe Impfrate eine neue Katastrophe verhindern könnte. Inzwischen haben drei Viertel aller Erwachsenen in Grossbritannien eine erste Dosis erhalten. Die Hälfte ist bereits voll geimpft. Die Nepal-Variante hat die Befürchtung ausgelöst, dass die existierenden Impfstoffe gegen sie praktisch wirkungslos sein könnten. Sie hat in London das Gefühl verstärkt, dass sogenannte Booster-Jabs, weitere Impfgänge mit angepassten Impfstoffen, schon in diesem Herbst dringend nötig werden könnten.

Verkehrsminister Grant Shapps hat derweil unter Berufung auf die neue Version die Reisemöglichkeiten für seine Landsleute weiter eingeschränkt, statt sie, wie von vielen Briten erhofft und von den Boulevardblättern gefordert, grosszügig zu erweitern. Derzeit wird allen Briten davon abgeraten, im Rest Europas Ferien zu machen. Wer dennoch geht, muss sich bei der Rückkehr zehn Tage lang in Quarantäne begeben.
Das gilt von Dienstag an auch für Rückkehrer aus Portugal. Portugal war bislang das einzige Land, aus dem man ohne Zwang zur Selbstisolation zurückkommen konnte. Nun versuchen Tausende binnen drei Tagen zurück auf die Insel zu kommen.
Warnung vor zweitem verlorenem Sommer
Unruhe geschaffen hat auch, dass von 12’000 englischen Fussballfans, die zum Champions-League-Final zwischen Chelsea und Manchester City nach Porto flogen, Hunderte anschliessend daheim in Quarantäne beordert wurden, weil es in mehreren Flugzeugen zu positiven Testergebnissen kam.
Fluggesellschaften und Reiseunternehmen sprechen bitter von einem «zweiten verlorenen Sommer». Noch ist unklar, ob die Regierung wie geplant am 21. Juni den Lockdown aufhebt in England oder zuwartet. Der Druck, mit dem viele Tory-Abgeordnete, jede Menge Geschäftsleute und die Rechtspresse des Landes ihren «Tag der Freiheit» einfordern, ist auf jeden Fall enorm.
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