Der Untergang des «Majorzkönigtums» im Kanton Zürich
Auch kleine Parteien und Gruppen haben dank dem Proporz Chancen auf Sitze in Parlamenten. Der heute selbstverständliche Proporz musste gegen erbitterten Widerstand erkämpft werden. Die erste «Verhältniswahl» für den Zürcher Kantonsrat 1917 brach die Dominanz der Liberalen.

Mitten im Ersten Weltkrieg, am 8. Juli 1917, wählten die Männer (die Frauen durften nicht) den Zürcher Kantonsrat erstmals nicht mit dem Majorz-, sondern dem Proporzverfahren. Wegen des Krieges war das Wahldatum vom Frühling in den Sommer verschoben worden. Im Land herrschte Not in breiten Kreisen. Die Lebensmittel waren knapp, die Preise stiegen, die Stimmung war aufgeladen. Im Wahlkampf flogen die Fetzen. Die Parteien wussten, dass es um sehr viel ging. Sie riefen das Volk auf, die Proporzlisten unverändert einzuwerfen, um möglichst keine Stimme an die Konkurrenz zu verlieren.
Erstmals eine Bauernliste
Zum ersten Mal trat die Bauernpartei, die eben erst gegründet worden war, mit einer eigenen Liste an. «Darum Bauern, helft euch selbst, stimmt Mann für Mann! Bringt alle bäuerlichen Listen unverändert zur Urne», heisst es in einem Inserat («Landbote» vom 6. Juli 1917). Und weiter: «Die Bauernsame liebt den Proporz nicht. Er ist ihr gegen ihren Willen aufgedrängt worden. Nur durch die Gründung einer eigenen, selbständigen Partei konnte sie sich wehren.»
Die Bauern hatten zuvor meist für die Demokratische Partei gestimmt. Diese verstand sich als Vertreterin des Mittelstandes zwischen Sozialdemokraten und Liberalen. «Doppelt nötig ist die Existenz einer Mittelpartei, wie sie die Demokratische Partei des Kantons Zürich darstellt und die wie keine andere auch den Mittelstand vertritt, in einer Zeit, wo der Kampf zwischen Kapital und Arbeit immer schärfer sich zuspitzt und die Grundlagen des Gemeinschaftslebens zu erschüttern droht. Gewerbe, Landwirtschaft, Kleinhandel, Beamte, Angestellte sind in gleicher Weise daran interessiert, dass der Mittelstand in diesem Kampf nicht zerdrückt und aufgerieben werde.» So steht es im «Landboten» vom 6. Juli 1917, dem Leibblatt der Demokraten.
Parteien grenzen sich ab
Die bürgerlich denkenden Demokraten propagierten auch soziale Reformen zugunsten der Arbeiterschaft, grenzten sie aber scharf von den Sozialdemokraten ab: «Zwischen der Demokratischen Partei und der heutigen Sozialdemokratie besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz der Welt- und Staatsauffassung», schreibt der «Landbote» am 3. Juli 1917. «Die reine Klassenkampftheorie kennt keine Volksgemeinschaft, kein alle Klassen und Stände umschliessendes nationales Band; sie ist in ihrem doktrinären Fanatismus nur noch Vertreterin der Interessen einer einzigen Klasse (. . .).»

Der Abstimmungssonntag brachte einen politischen Erdrutsch. Die grössten Gewinner im damals 223 Sitze (heute 180) zählenden Kantonsparlament waren die Sozialdemokraten. Sie steigerten ihre Sitzzahl um 39 auf 82 und stiessen damit die Liberalen als grösste Fraktion vom Thron. Überraschend gut schloss die Bauernpartei ab, obwohl einige ihrer Führer scharf gegen den Proporz geschossen hatten. Die Bauernpartei brachte es auf Anhieb auf 38 Sitze. Mandate gewannen auch die vorher nicht im Parlament vertretenen Christlichsozialen (8 Sitze) und die Grütlipartei (4), während die EVP, damals die «Reformierten» genannt, ihre 2 Sitze behalten konnte.
Dominanz gebrochen
Die grossen Verlierer waren die Liberalen, die sich am 11. Februar 1917 in Freisinnige Partei umbenannt hatten. Sie dominierten seit 1914 mit 98 Sitzen das Parlament. Ihre Vertretung schmolz um 54 auf 44 Sitze zusammen. Arg Federn lassen mussten auch die Demokraten. Sie büssten 36 Sitze ein und kamen nun noch auf 37. Ihre Talfahrt setzte sich in den kommenden Jahren fort, während die Bauernpartei, die Vorläuferin der heutigen SVP, zur bedeutenden Kraft aufstieg.
Im neu gewählten Kantonsrat von 1917 standen also 137 Bürgerliche 86 Sozialdemokraten und Grütlianern gegenüber. Das drei Jahre zuvor (1914) im Majorzverfahren gewählte Parlament zählte 177 Bürgerliche und 43 Sozialdemokraten. Der «Landbote» schrieb am 11. Juli 1917: «Dass die Sozialdemokraten (. . .) nun 82 Sitze haben, jagt manchen Leuten einen heillosen Schrecken in die Glieder und sie glauben, das Vaterland sei in Gefahr.» Und weiter: «Die Gegner des Proporzes werfen sich in Position und sagen: Seht, das haben wir kommen sehen und deshalb sind wir gegen den Proporz gewesen. Ihnen wird man entgegnen, dass mit einer nochmaligen Verwerfung des Proporzes die Sache nicht viel besser gewesen wäre. Eine Partei von der Stärke der Zürcher Sozialdemokratie lässt sich nicht auf die Dauer unter dem Daumen halten.»
«Dass die Sozialdemokraten (...) nun 82 Sitze haben, jagt manchen Leuten einen heillosen Schrecken in die Glieder (...).»
Der Kanton Zürich war kein Proporzpionier, sondern der zehnte Kanton, der dieses Verfahren einführte. Ihm voraus gingen die Kantone Tessin, Neuenburg, Genf, Zug, Solothurn, Schwyz, Basel-Stadt, Luzern und St. Gallen. Auch die Stadt Zürich war schneller als der Kanton. Die kantonalen Stimmberechtigten gestanden ihr 1913 den Proporz fürs Stadtparlament zu. Dies war insofern bedeutsam, als die guten Erfahrungen, die man in der Stadt machte, den Gegnern den Wind aus den Segeln nahmen.
Im zweiten Anlauf
Damit das Volk den Kantonsrat im Proporzverfahren wählen konnte, musste es zuerst die Frage beantworten, ob es den Proporz überhaupt will. Das geschah in einer Abstimmung ein Jahr zuvor: Am Sonntag, 10. Dezember 1916, sagten die Stimmberechtigten deutlich Ja zu einer Initiative, die den Proporz für den Kantonsrat verlangte. Bemerkenswert ist, dass ein erster Anlauf am 2. April 1911 scheiterte: Das Volk lehnte eine Proporzinitiative ab, obwohl Regierungs- und Kantonsrat dafür waren. Beim zweiten Anlauf 1916, der den Durchbruch brachte, empfahlen Regierung und Kantonsrat hingegen ein Nein. Man solle im Krieg nicht noch zusätzlich für Unsicherheit sorgen, wurde argumentiert.
Im Abstimmungskampf um die Proporzinitiative gingen die Wogen ebenfalls hoch. Treibende Kraft waren die Sozialdemokraten, die gemessen an ihrer Parteistärke im Kantonsrat stark untervertreten waren. Das Majorzverfahren, wie es für die Wahl des Regierungsrates galt und gilt, benachteiligte kleine Parteien und Gruppen. Weil es das absolute Mehr zu überwinden galt, konnten meist nur etablierte Parteien, die in den Wahlkreisen eine Mehrheit hatten, Mandate gewinnen. Das Verfahren begünstigte die Liberalen und benachteiligte Newcomer wie die Sozialdemokraten oder Minderheiten wie die Christlichsozialen. Erschwerend kam hinzu, dass die Wahlkreise zum Vorteil der Grossen ausgestaltet waren.
Liberale gegen Proporz
Die Liberalen gaben denn auch die Nein-Parole für die Proporzabstimmung heraus – mit 301 gegen 89 Stimmen. Schon 1911 waren sie dagegen gewesen. Allerdings gab es auch unter ihnen zahlreiche angesehene Köpfe, die für die Verhältniswahl eintraten. Die Demokraten hingegen verfochten ein Ja. Sie unterstützten die Besserstellung der Arbeiter, wandten sich aber gegen die Klassenkampfrhetorik.
Wie das sozialdemokratische «Volksrecht» am 5. Dezember 1916 feststellte, waren die Fronten verschwommen. Es gab keinen geschlossenen Bürgerblock, der den Linken und Proporzfreunden gegenüberstand. «Wenn es ein Machtkampf in diesem Sinne wäre, sähen wir nicht beträchtliche Scharen Bürgerlicher und verhältnismässig noch stärker die Intelligenz der bürgerlichen Parteiführer unter den Anhängern des Proporzes. Denn es ist für sie in die Augen springend, dass der Majorz nicht das Mittel ist, eine junge politische Partei auf die Dauer niederzuhalten.» Im Gegenteil, so das «Volksrecht» weiter, komme mit dem Erstarken der jungen Partei der Moment, «wo sich diese selber den Majorz zunutze macht und ihren ehemaligen Unterdrückern mit gleicher Münze heimzahlt». In einigen Wahlkreisen sei dies bereits geschehen: «Immer mehr beginnt so die ganze Ungerechtigkeit des Majorzes sich gegen seine alten Anhänger und Nutzniesser zu wenden.»
Persönlichkeit statt Partei
Die Liberalen aber hielt diese Perspektive nicht von einem Nein ab. In der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) vom 6. Dezember 1916 begründen sie es so: «Gegen die Verhältniswahl, den Proporz, spricht grundsätzlich, dass der in ihm liegende Zwang zur nackten Zahl das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten gegenüber der jetzigen Wählart ändert, wo es ein solches des persönlichen Vertrauens ist. Der Persönlichkeitswert des Volksvertreters tritt bei ihr in den Hintergrund. Die Partei und die Parteiparole herrscht statt des freien Entscheides der Wähler. Der Parteizwang würde den Gewählten in den Ratssaal begleiten.»

Die Liberalen argumentieren also mit der Persönlichkeit der zu Wählenden: «Der Liberale prüft vor allen Dingen Charakter und Persönlichkeit der Kandidaten; die persönlichen Fähigkeiten des zu einem Amte Vorgeschlagenen sind ihm wichtiger als die Parteirichtung.» Bei der Proporzwahl lägen die Dinge anders, findet die NZZ: «An Stelle der individuellen Auswahl unter den Kandidaten tritt die Entscheidung des Wählers für oder gegen eine ganze Kandidatengruppe.» Das freisinnige Blatt hatte allerdings das Problem, den Lesern zu erklären, weshalb man andernorts, etwa in der Stadt Zürich, mit dem Proporz gute Erfahrungen gemacht hatte. «Dies erklärt sich ganz einfach daraus, dass liberale Parteien auch unter der Herrschaft der Verhältniswahl gezwungen sind, den Wählern möglichst tüchtige Kandidaten zu präsentieren, weil (. . .) der liberale Wähler auch hier auf die Persönlichkeit abstellt.»
Umkämpfte Bauern
Besonders umkämpft waren die Stimmen der Bauern. Die Landvertreter bei den Liberalen sollen sogar den Ausschlag gegeben haben bei der Nein-Parole. Das «Volksrecht» versucht in seiner Ausgabe vom 1. Dezember 1916 nachzuweisen, dass die Bauern kein Interesse an der Aufrechterhaltung des Majorzes haben können: «Der Majorz ist das Mittel der freisinnigen Partei, sich solange wie möglich über Wasser und im Parlament in der Majorität zu halten. Der Majorz wird also dann im Interesse der kleinen Landwirte liegen, wenn sich deren Interessen mit den Interessen der freisinnigen Partei decken. Das ist nun aber nicht der Fall. Die freisinnige Partei ist in erster Linie Interessensvertreterin des Handels- und Industriekapitals, und sie vertritt nur soweit die landwirtschaftlichen Interessen, als das psychologisch notwendig ist, um die Bauern zu fördern. Immer aber weiss sie es so anzustellen, dass der gewinnende Teil nicht die grosse Klasse der Klein- und Mittelbauern ist, sondern die geringe Schicht der schuldenfreien Grundbesitzer.»
«Das Ergebnis gibt dem Proletariat die Mittel in die Hand, den Kampf gegen den kapitalistischen Klassenstaat wirkungsvoller als bisher zu führen.»
Dass ein Bauer aber sozialdemokratisch stimmt, hält das «Volksrecht» für illusorisch: «Wir stehen zwar auf dem Standpunkt, dass ein intelligenter Kleinbauer, wenn er sich nützen will, sozialdemokratisch stimmen sollte. Hat er aber eine solche politische Reife noch nicht erreicht, so wird er wenigstens für die Bauernschaft allein gegen die Grossbauernschaft und gegen das Grosskapital antreten wollen, die ihn durch ihre Allianz schädigen.» Fazit des «Volksrechts»: «Nicht Majorz, sondern Proporz ist die Parole auch für die Landbevölkerung.»
Landbezirke stimmten Nein
In der Abstimmung vom 10. Dezember 1916 zeigte sich dann folgendes Bild: Die Proporzinitiative kam zwar deutlich durch, aber sämtliche Landbezirke stimmten Nein, wenn auch nicht mit grossen Mehrheiten. Einzig die städtischen Wahlkreise Zürich und Winterthur stimmten zu – gaben aber den Ausschlag: 48 672 Ja standen 41 919 Nein gegenüber. Knapp 7000 Stimmen betrug der Ja-Überschuss. Der Unterschied zur fünf Jahre zurückliegenden Abstimmung von 1911 sticht ins Auge. Damals dominierte das Nein-Lager mit 42 197 Stimmen bei nur 30 474 Ja.
Jubel bei der SP
«Sieg der Wahlgerechtigkeit», jubelte das «Volksrecht» am 11. Dezember 1916. Der gestrige Tag habe die höchsten Erwartungen übertroffen. Die jahrzehntelangen Anstrengungen hätten zum Erfolg geführt. Der Weg von der demokratischen Verfassungsrevision 1869 bis hierher sei lang und anstrengend gewesen: «Aber er führte vorwärts und aufwärts und gab gestern in seinem Wendepunkt dem Proletariat die Mittel in die Hand, den Kampf gegen den kapitalistischen Klassenstaat wirkungsvoller als bisher zu führen. Hohe Genugtuung und Freude erfüllt deshalb die Genossen über diesen unerwartet grossen Erfolg, und sie dürfen sich dieses Ergebnisses freuen, sie, die in langer unablässiger Arbeit das meiste zum Sturz des Majorzkönigtums beigetragen haben.»
Die NZZ vom 11. Dezember 1916 nahm das Ergebnis gelassen zur Kenntnis. Sie sagte den Sozialdemokraten 30 Sitzgewinne im Kantonsrat voraus. Es waren schliesslich 39. «Die Freisinnigen hingegen», so die NZZ weiter, «dürften kaum Enttäuschungen erleben; sie werden möglicherweise einige Mandate an die äusserste Linke abtreten müssen; im grossen und ganzen aber werden sie ihren Besitzstand wohl behaupten können.» Die Voraussage war falsch, wie sich ein Jahr später zeigen sollte. Sie verloren 54 Sitze.
Persönliche Verhetzung
Die Zürcher «Morgen-Zeitung», ein bürgerliches Organ für Stadt und Land, schrieb: «Das Resultat ist nicht nach unserem Sinne ausgefallen, aber wir haben es vorausgesehen. Der Aufwand an Agitationsmitteln, den die Proporzfreunde seit langem trieben und zu dem in den letzten Tagen noch die persönliche Verhetzung kam und so auf kleinliche Instinkte der breiten Massen tippte, hatte voraussehen lassen, dass die kühle Erwägung bei vielen ertötet und der Klassenhass ausschlaggebend werde.»
Verschiedene Zeitungen interpretierten das Abstimmungsergebnis als gutes Omen für den Durchbruch des Proporzes auch im Nationalrat. Dort brauchte es drei Anläufe, bis eine Initiative 1918 durchkam. Die erste Proporzwahl fand 1919 statt. Zu den grossen Siegern gehörten wiederum die Sozialdemokraten.
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