Das Musik-Jahr im RückspiegelDie besten Pop-Fundstücke 2020 (Teil 1)
Wir haben auf der ganzen Welt nach Liedern gesucht, die das Jahr überdauern könnten. Abseits von Algorithmen und Hitparaden sind wir auf jede Menge grossartige Musik gestossen. Das Spektrum reicht von ghanaischem Reggae über Mundart-Chanson bis zur elektronischen Indianer-Musik.

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Bai Kamara jr. & The Voodoo Sniffers: «Don’t Worry About Me»
Auch wenn der Blues-Mann Bai Kamara uns hier die Zeile «Don’t Worry About Me» entgegenschmachtet: 2020 war ein Jahr, in dem man sich sehr wohl Sorgen um die Musikschaffenden der Welt machen musste. 2020 geht als Epoche des Kulturstillstands in die Geschichtsbücher ein, in welchem Berufsverbote schneller ausgesprochen waren als Rettungsschirme aufgespannt. Und in den meisten Regionen der Welt – so auch in Kamaras alter Heimat Sierra Leone – taucht das Wort Rettungsschirm nicht einmal im aktiven Wortschatz auf. Der Mann, der seit über 25 Jahren in Brüssel lebt, hat uns 2020 ein schier meditatives, minimal instrumentiertes Afro-Soul-Blues-Album beschert und triggert dabei immer wieder Erinnerungen an den jungen John Lee Hooker.
Sho Madjozi: «Di Hawks»
Spätestens seit Sven Epiney neulich in einer televisionären Liveshow seine Liebesgeschichte vortanzte, kam der Verdacht auf, dass der Tanz an sich, womöglich eine leicht überschätzte Tätigkeit sein könnte. Dieser Eindruck verstärkte sich, als SRF in diesem Jahr Werbetrenner mit beängstigend hüftsteifen Technotänzerinnen und -tänzern in unsere Stuben sendete. Und auch in der Politik scheint das Club-Wesen bloss noch im Stand entbehrlicher Plausch-Veranstaltungen zu rangieren. Die Baisse auf den Tanzböden hat sich 2020 auch auf die Musikproduktion ausgewirkt. Wozu Tanzmusik veröffentlichen, wenn doch niemand dazu tanzen darf? Einige neckische Tracks erreichten uns immerhin aus Südafrika, wo weiterhin an der ureigenen Clubmusik namens Gqom gewerkelt wird. Unsere Heldin der Stunde: Sho Madjozi aus Limpopo.
Other Lives: «Cops»
Das wohl schönste Album des Jahres stammt aus einem Land, das in diesem Jahr schier auseinanderzubersten drohte. Other Lives aus Oklahoma haben mit «For Their Love» ein Werk veröffentlicht, das mirakulös zwischen New Wave, Folk und Westernromantik irrlichtert, es umarmt mit wohligsten Melodien und feinsten Streichern. Doch so schön das Ganze anzuhören ist, so bitter fällt der Abgesang auf die USA aus. Der amerikanische Traum wird hier im allerschönsten Zeremoniell begraben.
Sven Wunder: «Morning Glory»
Der schwedische Corona-Weg war ein stetiger Aufreger in der Pandemie-Berichterstattung. Ein Schwede, der musikalisch eigene Wege ging, ist Sven Wunder, der 2020 gleich zwei entzückende Alben veröffentlichte, auf denen er seine geografische Herkunft derart fulminant vernebelte, dass einem schier schwindlig wurde. In seinem Repertoire findet sich mal Spaghetti-Western-Ästhetik, japanische Folklore oder anatolischer Psychedelik-Jazz. Das Ganze wird zuverlässig mit schnieken Breakbeats serviert.
Tocotronic: «Hoffnung»
Deutschland gebärdete sich ja ganz gerne als Europameister der Krisenbewältigung. Wenn jedoch jemand diesen Titel wirklich verdient hat, dann ist es die Hamburger Gruppe Tocotronic. Auch wenn 2020 so einige Quarantänelieder hervorgebracht hat; keines hat die Befindlichkeit des Isoliertseins und des Schlenkerns zwischen wachsender Weltdistanz und aufflackernder Neuanfangshoffnung besser getroffen als deren fein gezupfte Hymne «Hoffnung». Und was rettet uns am Schluss? Genau: die Liebe.
Michelle Andreu: «Bobagem»
Es sind gleich zwei Katastrophen, welche die Kreativen in Brasilien derzeit in die Knie zwingen: Da ist einmal das Coronavirus, welches in Brasilien bald 200’000 Tote gefordert hat und das vom Präsidenten noch bis vor kurzem als Erfindung der linken Medien abgetan wurde. Und da ist ebendieser rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro, der es schon vor der Krise darauf angelegt hat, die Kulturszene zu zerschlagen, um eine nationalistische Kulturidee zu installieren. Ein Wunder, dass in diesem misslichen Umfeld solch ausbalancierte, himmeltraurigschöne Musik entstehen konnte wie dieses Nu-Bossa-Nova-Bijou von Michelle Andreu und João Capdeville.
Pa Salieu: «B***k»
Schwarz zu sein, war schon vor 2020 grossmehrheitlich kein Wettbewerbsvorteil. In diesem Jahr wurde der Welt wieder einmal auf erschreckende Weise in Erinnerung gerufen, dass eine dunkle Hautfarbe auch heute noch eine Todesursache sein kann und Rassismus ein nicht zu tilgendes Menschheitsübel darstellt. Pa Salieu, einer der derzeit Aufhorchen-erregendsten Rapper Englands, ergründet auf «B***k» mit wohltuendem Stolz seine afrikanischen Wurzeln.
Tara Nome Doyle: «Transmutation»
Noch bevor es gesetzlich verordnet wurde, hat die norwegisch-irische Singer-Songwriterin Tara Nome Doyle sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Ihr Album ist teils in der Abgeschiedenheit norwegischer Wälder entstanden. Das hat ein Werk voller aufgeschürfter Seelenruhe und dunkler Pracht begünstigt.
Baxter Dury: «Salvia Hog»
Forderte sein Papa Ian Dury im Welthit «Hit Me With Your Rhythm Stick» noch Prügel mit dem Rhythmusstock, ging Sohn Baxter 2020 der Frage nach, was es mit den Polo-Eidechsen auf sich hat. Das ist zwar vollkommen sinnentleert, der entstandene Song ist indes ein Lehrstück in Sachen Coolness und entschleunigter Tanzmusik.
Patrick Watson: «Lost With You»
Apropos Entschleunigung: Spotify hat eine Studie angestrengt, die herausfinden sollte, wie sich das Hörverhalten der Menschen in der Corona-Krise verändert. Zu den weniger wichtigen Erkenntnissen der Studie gehört, dass 2020 öfters nach Musik gesucht wurde, mit der man Kinder schläfrig machen kann. Und es wurde auch herausgefunden, dass es die Menschheit in Social-Distancing-Zeiten nach entspannender Musik dürstet. Ein Prachtsstück aus diesem Musikzweig ist dem Kanadier Patrick Watson gelungen.
Algiers: «Chaka»
Die Gruppe Algiers ist bisher vor allem durch ihren Grobian-Gospel aufgefallen. Die Band aus Atlanta hat sich 2007 als Reaktion auf Frustration, Repression, Gewalt und Rassismus in den Südstaaten ins Leben gerufen. Da sich die Welt seit der Band-Gründung nicht auf dem Weg der Besserung befindet, schmetterten sie mit «There Is No Year» ein Album in ebendiese Welt, das auf eindrückliche Weise Furor, Rausch und Passion in sich vereint. Das ausgewählte Stück klingt, als melde sich Michael Jackson aus der Kinderbelästiger-Hölle zurück. Mit Zeilen wie: «You can't hide away /And move on to the next boy». Unheimlich.
Latir: «Wallflower»
An der Wiege der Popmusik herrscht Untergangsstimmung. Laut einer Umfrage denken bereits 34 Prozent aller professionellen Musiker und Musikerinnen Englands darüber nach, der Musikwirtschaft ganz den Rücken zu kehren. Und fast jeder zweite ist gezwungen, anderen Tätigkeiten zur Lebenssicherung nachzugehen. Schön, dass in diesem Umfeld ein derart sonniges und leicht hüpfendes Lied entstanden ist: «Wallflower» des Londoner R&B-Sängers Latir macht den Untergang halbwegs erträglich.
Ashraf Sharif Khan & Viktor Marek: «Maschinenland»
Trotz des allgemeinen Kulturabgesangs hat das Jahr 2020 sogar einige neue Musikstile hervorgebracht. Zum Beispiel den Sufistep. Es ist die Erfindung des pakistanischen Sitarmeisters Ashraf Sharif Khan, den die Liebe in Deutschlands Norden verschlagen hat. Zusammen mit dem Mitbetreiber des Hamburger Golden Pudel Clubs hat er die Sitarspielkunst zur Clubtauglichkeit aufgemöbelt. Auf dem Album ist auch Platz für eine fulminante Coverversion des Abwärts-Klassikers «Maschinenland».
Ambar Lucid: «Fantasmas»
In den US-Wahlen haben sich die Latinos als wenig zuverlässige politische Kraft erwiesen, kippten doch viele von ihnen – vermutlich in politmasochistischer Erregung – ins Trump-Lager. Dabei gehört den Latinos doch neuerdings die Welt – zumindest die Musikwelt: Mit 8,3 Millionen Streams war der Puerto Ricaner Bad Bunny der erfolgreichste Musiker auf Spotify. Dazu verhalf ihm ein gemütlich groovendes Gemenge aus Reggaeton, ein bisschen Baukasten-Trap und Auto-Tune-Schlager mit Äquatoranbindung. Also quasi eine puerto-ricanische Variation von Lo & Leduc. Viel besser gefällt uns indes, was der amerikanische Teenager Ambar Lucid so treibt. Die Tochter eines aus den USA ausgeschafften Mexikaners und einer Dominikanerin bietet bekümmerten Eiszapfen-Pop mit herzerwärmenden Refrains.
Dizzee Rascal: «L.L.L.L.»
Laut derselben Erhebung ist Hip-Hop noch immer das meistgehörte Genre auf der Welt. Insbesondere das britische Subgenre Grime, dem Sibylle Berg bekanntlich das Buch «GRM» gewidmet hat, förderte 2020 Erfreuliches zutage. So hat unter anderem das geistige Grime-Oberhaupt Dizzee Rascal ein neues Album voller schnellzüngiger Pracht veröffentlicht.
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Unsere 200 Lieblingslieder des Jahres 2020 sind auf dieser Spotify-Playlist zusammengefasst.
Wer auch 2021 regelmässig über neue Musik informiert sein will, dem seien die beiden laufend erweiterten Playlists zur Online-Kolumne «Pop-Briefing» empfohlen.
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