
Als 2020 die erste Corona-Welle auf Europa zurollte, weckte dies böse Erinnerungen an den Spätsommer 2008 und an den Fall der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers, der eine weltweite Banken- und Finanzkrise auslöste. Damals genügten skrupellose Investmentbanker, um einen globalen Vertrauensverlust in Gang zu setzen, der am Schluss beinahe die Europäische Währungsunion zerschellen liess.
Ein paar Jahre zuvor, im Spätsommer 2001, reichten gar eine Handvoll mit Teppichmessern bewaffnete Flugzeugentführer, um die Welt in die Krise zu stürzen. Die zusammenkrachenden Türme von 9/11 in New York und der Fall der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers waren ohne Zweifel die beiden folgenschwersten Weltereignisse des frühen 21. Jahrhunderts.
So unterschiedlich deren Wurzeln sind, so sehr trugen sie dennoch eine gemeinsame Botschaft: Die Botschaft einer globalisierten Welt, in der wenig genügt, um alles ins Wanken zu bringen. Es ist die Botschaft einer verletzlichen, dünnen Zivilisation, in der Vertrauen auf schwachem Fundament steht. Doch wenn sich derart Punktuelles zum Flächenbrand ausweitet: Was heisst das für den Moment, wenn erst einmal eine richtig grosse Krise auf die Welt zurollt?
Es war diese Frage, die mich umtrieb vor der ersten Corona-Welle 2020. Und tatsächlich: Einstürzende Börsenkurse, abbrechende Lieferketten und Hamsterkäufe bestätigten alsbald alle Befürchtungen. Doch dann kam es anders. Im Unterschied zu den ersten beiden globalen Krisenereignissen des 21. Jahrhunderts zeigt das dritte eine ausgesprochen robuste, krisenresistente Welt.
Bemerkenswert ist, wie viele Steine nach Monaten der Krise aufeinandergeblieben sind.
Die Corona-Pandemie sorgte und sorgt für viel Leid – gesundheitlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Gemessen am historischen Ausmass der Einschränkungen, die wir in dieser Art zuvor kaum für denkbar hielten, gemessen an der Reichweite der Pandemie, die keine Weltregion verschont, ist das wahrhaft Bemerkenswerte nicht das Zerbrochene. Bemerkenswert ist, wie viele Steine nach Monaten der Krise aufeinandergeblieben sind. Bemerkenswert ist, wie viele Menschen die widrigen Umstände weggesteckt und sich wieder aufgerappelt haben und wie rasch es gelingt, wieder an eine vergessen geglaubte Normalität anzuknüpfen.
Das grosse Wunder unserer Zeit ist die Art und Weise, wie die Welt diese Jahrhundertkrise stemmt: stoisch und ohne Fall ins Bodenlose. Diese Geschichte wird leider viel zu selten erzählt. Dabei ist sie es, welche die pessimistischen Paradigmen des frühen 21. Jahrhunderts in die Schranken weist – viel mehr noch, als es die Feel-Good-Hochkonjunktur der Vor-Corona-Zeit tat. Die Haut der Zivilisation ist dicker als gedacht.
Die Bankenkrise hat aufgedeckt, wie wichtig Geld und Kapital als Schmiermittel von Vertrauen sind.
Dass dies so ist, hängt nicht zuletzt mit den Lehren aus der Bankenkrise zusammen. Sie hat aufgedeckt, wie wichtig Geld und Kapital als Schmiermittel von Vertrauen sind. Noch bevor die Corona-Krise bei uns angerollt ist, wussten alle Involvierten um die Wirkung des «Wir unternehmen alles Nötige, um Kredite zu garantieren und die Wirtschaft zu stabilisieren».
Mario Draghis berühmte Whatever-it-takes-Rede, mit welcher der damalige Chef der Europäischen Zentralbank die Eurokrise 2012 mit einem Schlag beendete, war wahrscheinlich der wichtigste Baustein im Umgang mit der Corona-Krise. Ohne dieses Vorwissen wäre alles viel zögerlicher abgelaufen und der Damm womöglich vor Eintreffen der Rettung gebrochen.
In der Schweiz war es besonders die Erfahrung mit der UBS-Rettung, welche die mentale Basis legte. Ohne diese Erfahrung hätte der Bundesrat kaum so rasch und unwidersprochen das urschweizerische Credo der Sparsamkeit im Krisenmoment über Bord werfen können. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die masslosen Banker der UBS-Krise indirekt dazu beitrugen, dass die Schweiz wirtschaftlich so solid durch die Corona-Krise gekommen ist. Nicht auszudenken, was wäre, wenn die Covid-19-Pandemie vor und nicht nach dem Fall der Banken stattgefunden hätte.
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Kolumne Michael Hermann – Die dicke Haut der Zivilisation
Das grosse Wunder unserer Zeit ist die Art und Weise, wie die Welt die Jahrhundertkrise Corona stemmt: stoisch und ohne Fall ins Bodenlose.