Wächterin über Lausanne Die erste Frau seit 600 Jahren
Die 27-jährige Cassandre Berdoz ist die erste Turmwächterin in der Lausanner Stadtgeschichte. Eine Forderung der Frauenbewegung hat sich damit erfüllt.

Lausannes Stadtregierung sprach von «einer Pioniertat in Sachen Gleichberechtigung». Im August rief der Stadtrat die 27-jährige Cassandre Berdoz medienwirksam zur ersten Turmwächterin der Stadtgeschichte aus. Mit der Ernennung lösten die Stadtoberen ein Versprechen ein, das sie am Frauenstreik am 14. Juni 2019 abgegeben hatten.
Die Wahl einer Frau sei schlicht überfällig gewesen, sagt Cassandre Berdoz. Im Jahr 1405 habe die Stadt die Aufgabe des Turmwächters erstmals vergeben und die Frauen 600 Jahre lang übergangen. Darum ist für Cassandre Berdoz klar: «Wenn ich zwischen 22 Uhr abends und 2 Uhr morgens zu jeder vollen Stunde die Uhrzeit über die Dächer Lausannes rufe, dann tue ich das im Namen aller Frauen.» Um ein Zeichen zu setzen, nennt sie sich auch «La Guette de Lausanne» und nicht «Le Guet», wie ihre fünf männlichen Kollegen das tun.
Die Stadt zu Füssen
An Abenden, an denen Cassandre Berdoz über die Stadt wacht, schlüpft sie kurz vor 22 Uhr durch eine kleine Tür in einen der Türme der Kathedrale. Der erste Raum hat die Form und Architektur einer kleinen Kapelle. Jeder Schritt hallt nach. «Ich liebe es, hier zu singen. Die Raumakustik ist herrlich», sagt die 27-Jährige, die sich am Konservatorium zur Sängerin ausbilden liess und an der Universität Neuenburg Kommunikationswissenschaften studierte.
Dann geht es steil nach oben. 153 Stufen zählt die Treppe hinauf zum Balkon der Kathedrale. Die Aussicht ist prächtig. Die Stadt samt Genfersee liegt der Turmwächterin buchstäblich zu Füssen. Hier sei es immer schön, selbst wenn es stürmt, sagt Cassandre Berdoz. Herrlich sei es auch, wenn es schneie und die Schneeflocken schwerelos durch die Luft tanzten und sich sanft auf der Stadt niederliessen.

Die Aufgaben heutiger Nachtwächter ist es, die Uhrzeiten von der Kathedrale zu rufen. Die Stadt wünscht sich darüber hinaus, dass sie ab und zu Einheimische und Touristen mit auf den Turm nehmen. Das war vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein noch anders. Damals mussten Turmwächter auch nach Feuersbrünsten und anderen Unglücksfällen Ausschau halten und in Notfällen von den Türmen der Kathedrale hinab Alarm schlagen.
Auch heute könne man als Turmwächter wertvolle Dienste leisten, betont Cassandre Berdoz in ihrer kleinen, gut geheizten Loge. Vor Jahren sei nachts auf dem Genfersee ein Schiff gesunken. Lausannes Turmwächter habe die Szene beobachtet und der Polizei helfen können, das Schiff zu orten.

Punkt 22 Uhr ertönt in der Loge ein leises Surren. Die Mechanik setzt die Glocken in Bewegung. Cassandre Berdoz hält beide Hände über ihre Ohren. Rasch wird klar, warum. Die Glockenschläge im Turm sind derart heftig, dass die gesamte Loge vibriert. Nachdem der letzte Glockenschlag verklungen ist, greift die 27-Jährige zum schwarzen Hut und entzündet die Kerze in ihrer Laterne. Dann tritt sie auf den Balkon in die dunkle Nacht hinaus, formt die Hände zu einem Trichter und ruft in jede Himmelsrichtung: «C’est la guette! Il a sonné dix! Il a sonné dix!»
Die Leute auf dem Vorplatz der Kathedrale bleiben abrupt stehen und winken. Cassandre Berdoz geht derweil in ihre Loge zurück. Alles wirkt so vertraut und eingespielt, als hätte Lausanne nicht erst seit August 2021, sondern seit 1405 eine Guette gehabt.
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