
Ein Sitz im schweizerischen Bundesrat ist um Welten sicherer als der eines britischen Schatzkanzlers oder einer deutschen Aussenministerin. Die Wahrscheinlichkeit, als Mitglied der Schweizer Landesregierung abgewählt zu werden oder auf äusseren Druck unfreiwillig den Platz räumen zu müssen, ist minimal – verglichen mit den Exekutivämtern in jeder anderen funktionierenden Demokratie.
Doch während Mitglieder ausländischer Regierungen trotz unsicherer Perspektiven kaum je in Agonie verfallen, benehmen sich die Schweizer Bundesräte wie Hasen in der Jagdsaison. Statt gemeinsam Führungs- und Gestaltungswillen zu zeigen, belauern sie sich gegenseitig, gönnen sich wenig und setzen mit ihren wachsenden Kommunikationsstäben auf Selbstoptimierung durch Risikominimierung.
Es ist kein Zufall, dass grade die aktuelle politische Führung derart defensiv und ängstlich agiert. Es ist die «Generation SVP», die heute das Sagen hat. Zur «Generation SVP» gehören jene Schweizerinnen und Schweizer, die irgendwann zwischen 1960 und 1985 geboren wurden. Dies entspricht mehr oder weniger den sonst eher unauffälligen Jahrgängen der Generation X – zwischen Baby-Boomers und Millennials.
Die «Generation SVP» wurde durch die Jahre der Dominanz der Rechtspartei geprägt und in gewissem Sinn auch traumatisiert.
Das politische Bewusstsein dieser Alterskohorte wurde in der Schweiz durch einen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der SVP geprägt. Die Schweizerische Volkspartei gewann ab den frühen 1990er-Jahren fünf nationale Wahlen in Folge. Auch wenn es aus heutiger Sicht fast blauäugig wirkt – in der Zeit nach der Jahrhundertwende war etwas anderes als ein anhaltender Vormarsch der nationalkonservativen Kraft kaum vorstellbar.
Die SVP wurde zum Schrecken ihrer Mitbewerber, auch weil sie von der EWR-Abstimmung (1992) bis zur Masseneinwanderungsinitiative (2014) immer wieder spektakuläre Abstimmungserfolge gegen das Polit-Establishment landete. Auf sonderbare Weise schien diese Partei einen direkten Draht zum Willen des Volks zu haben.
Mehr als zwei Jahrzehnte drehte sich in der politischen Schweiz fast alles um das Phänomen SVP, und das hat tiefe Spuren in den Köpfen einer ganzen Generation hinterlassen. Die Generation X oder eben die «Generation SVP» wurde durch die Jahre der Dominanz der Rechtspartei geprägt und in gewissem Sinn auch traumatisiert.
Die Stärke der SVP liegt heute primär in ihrer Macht über die Köpfe dieser besonders einflussreichen Generation.
Und diese Generation steht heute, da die Babyboomer in Rente gehen, am Zenit ihrer Macht – im Bundesrat ebenso wie in den Kaderpositionen der Bundesverwaltung. Während noch vor wenigen Jahren die Schweizer Regierung gerne voranging und dabei gelegentlich von der Bevölkerung zurückgepfiffen wurde, ist heute eher das Gegenteil der Fall. Wenige Verantwortungsträgerinnen und -träger sind so mutlos wie die im aktuellen Bundesrat. Zwei Jahre lang hatten diese sich beispielsweise von der SVP-Begrenzungsinitiative (2020) eintreiben lassen. Obwohl diese zweite «Durchsetzungsinitiative» von Anbeginn chancenlos war.
Die in Fleisch und Blut übergegangene Furcht vor dem «Volkswillen» hemmt bis heute proaktives Handeln – gerade im Bereich der europäischen Beziehungen. Dabei hat sich das «Volk» in keiner der letzten sechs relevanten Abstimmungen gegen Europa gestellt. Die verbleibende Stärke der SVP liegt heute primär in ihrer Macht über die Köpfe dieser besonders einflussreichen Generation. Einer Generation, die sich während zweier Jahrzehnten SVP-Dominanz den politischen Schneid hat abkaufen lassen. Doch bei der politischen Hasenfüssigkeit der Generation X geht es längst nicht um SVP-Themen. Viele Exponenten dieser Altersklasse vertreten eine politische Kultur, in der vor allem Fehlervermeidung grossgeschrieben ist.
Dabei würde die Eigenheit unseres Systems, dass ein gewähltes Regierungsmitglied kaum je seinen oder ihren Posten unfreiwillig räumen muss, die besten Voraussetzungen für mutiges Handeln schaffen. Die Abwahl von Ruth Metzler (CVP) und von Christoph Blocher (SVP) begründeten keine neue Epoche, sondern waren Kulminationspunkte einer politisch ausserordentlichen Zeit. Es ist das Privileg unserer Bundesräte, dass sie eigentlich nichts verlieren können. Gewinnen können sie jedoch nur, wenn sie diese besondere Freiheit gemeinsam nutzen, zupacken und vorangehen. Herausforderung gäbe es genug.
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Kolumne von Michael Hermann – Die «Generation SVP» im Bundesrat
Bundesratsmitglieder haben einen der sichersten Jobs der Politwelt. Warum agieren sie trotzdem so hasenfüssig?