Der Zwiespalt der SchwimmerDie Panik ist wegtrainiert, jetzt fehlt nur noch das Ziel
Maria Ugolkova ist wieder in ihrem Element. Doch für die derzeit beste Schweizerin ist das vermeintlich nahe Finale ihrer Karriere plötzlich voller Ungewissheit.

Das riesige Olympiabecken ist leer. Die zehn 50-m-Bahnen sind ohne Wasser, Handwerker machen sich da und dort zu schaffen. Die Anlage im Ustermer Buchholz ist in der vorgezogenen Revision, und diese zieht sich dahin. Die Ersatzteile aus Italien sind wegen der Corona-Krise mit Verspätung eingetroffen. Die rund 20 Elite-Schwimmerinnen und -Schwimmer des SC Uster-Wallisellen kümmert das allerdings nicht. Der Club ist in der komfortablen Lage, im gleich daneben liegenden alten Becken trainieren zu können.
Erst die Besten können wieder ins Wasser
Trainieren! Immerhin. Das ist momentan die Hauptsache. Von den 400 Clubmitgliedern sind aber erst die Besten zurück im Wasser, die anderen müssen sich nach dem Bundesratsentscheid vom Mittwoch noch bis zum 6. Juni gedulden. Morgens um sieben startet die erste Schicht, die Vorschriften sind streng, nicht mehr als zwei Schwimmer pro Bahn. Die zweite Schicht folgt im Laufe des Morgens, die dritte am Abend. Die Garderoben sind tabu, die Toiletten ebenfalls.
Das geht nun die dritte Woche so, und Headcoach Gerard Moerland findet, bald müssten sie sich etwas einfallen lassen. «Die Physis war in den acht Wochen Pause kein Problem, das war wie verfrühte Sommerferien. Das wirkliche Problem ist, dass alle Ziele weg sind, EM abgesagt, Olympia und anderes verschoben auf nächstes Jahr», sagt er. Zehnmal trainieren pro Woche werde mental schnell mühsam, wenn das Ziel fehle.

Maria Ugolkova ist derzeit die erfolgreichste Athletin Usters, sie gewann in den vergangenen Jahren an Europameisterschaften zwei Medaillen über 200 m Delfin. Die Spiele in Tokio in diesem Sommer hätten ihre «last destination» werden sollen, ihre letzte Karrierestation, wie sie sagt. Danach hätte die 30-jährige gebürtige Russin zurücktreten wollen. Nach einem langen Weg durch die Schweiz, der 2005 in Lugano begonnen hatte, den sie in Lausanne mit dem Studium fortsetzte und in Uster nun mit einer schönen Schwimmkarriere krönt. Und weil Schwimmer im 4-Jahres-Zyklus von Olympia zu Olympia denken, tut das Ugolkova nun noch ein Jahr länger bis 2021.
Ugolkova ereifert sich noch heute darüber, dass ihr nicht gestattet wurde, allein im Bad zu trainieren.
So einfach ist das aber nicht. Denn als am 18. März wegen der Corona-Pandemie die Schliessung aller öffentlichen Sportanlagen beschlossen wurde, versetzte das Ugolkova kurz in Panik. «Ich war Anfang Jahr mega gut in Form», sagt sie. Doch dann waren da nur noch Fragen – und Unverständnis. Ugolkova ereifert sich noch heute darüber, dass ihr nicht gestattet wurde, allein im Bad zu trainieren. «Ich hätte niemanden in Gefahr gebracht, und niemand hätte mich in Gefahr gebracht, wir Schwimmer brauchen doch das Wasser!» Und sie vergleicht sich mit anderen Arbeitnehmern, die von ihrer Wohnung zum Arbeitsplatz pendelten und zurück. «Für mich war es sehr schwer zu akzeptieren, dass dies nicht möglich sein sollte, obwohl wir ja auch nur unserem Beruf nachgehen.»
Ihre allgemeine Gemütslage ist aber längst eine andere, grossen Einfluss darauf hatte ihr Trainer Pablo Kutscher. Innert kürzester Zeit schrieb er ihr einen Kraft-/Ausdauer-Trainingsplan für zu Hause und den Balkon. Ugolkova lacht schallend und versucht noch einmal zu erklären, wie schwierig eine solche Umstellung für den Körper ist, der sich wöchentlich 20 Stunden im Wasser bewegt. «Mental ist es sogar brutal, weil ich immer nur im Kopf hatte, dass die Superform immer mehr verloren geht.»
Die Form mag zwei Monate später nicht mehr dieselbe sein, aber Moerland betont, dass man eine solche Zeit auch nutzen könne, um an Schwächen zu arbeiten. Das ist Ugolkova offensichtlich gelungen. Sie hat in den vergangenen zwei Wochen festgestellt, dass sie viel Kraft ins Wasser bringt, «ich schwimme die gleiche Geschwindigkeit mit weniger Zügen als vorher, das ist ein Fortschritt». Und mit einiger List hat ihr der Trainer während des Lockdown auch neue Aufgabe gestellt: Innerhalb von zehn Tagen sollte sie einen Marathon laufen. Sie sei zuvor nie gejoggt und könne das auch nicht, sagt Ugolkova, aber: «Ich habe es geschafft.»
Im Schwimmclub Uster hofft man, den Schwimmern nicht länger solche ungewohnten Kleinziele «vorgaukeln» zu müssen, wie Moerland sagt. Die Absicht von Präsident Philippe Walter ist, nach weiteren Lockerungen des Bundes im August oder September ein nationales Meeting anbieten zu können. Der Grossclub mit seinen 25 Trainingsgruppen wäre im Juli Veranstalter der viertägigen Sommermeisterschaften gewesen. «Die Einnahmen hätten 15 Prozent unseres Jahresbudgets ausgemacht», sagt er, «das tönt nicht nach viel, es sind aber mehrere Zehntausend Franken, die uns fehlen werden.» Neben dem Anteil aus der Schwimmschule, die üblicherweise von rund 1200 Kindern besucht wird. Mit dem Entscheid vom Mittwoch kehrt Anfang Juni ein grosses Stück Normalität zurück. Bis dann ist auch das Olympiabecken revidiert. Zeit für neue Ziele.
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