Reaktionen auf den Nagra-Entscheid«Was wir brauchen, ist viel Kraft, Mut und Zusammenhalt», heisst es aus Stadel
Appelle an die Bevölkerung, Forderungen und kritische Fragen. Wir haben die Reaktionen auf den Standort-Entscheid der Nagra zusammengetragen.
Das Wichtigste zum Endlager
«Niemand will ein Atomendlager vor seiner Haustüre», schreiben die Grünliberalen des Bezirks Dielsdorf in ihrer Medienmitteilung zum Standort-Entscheid der Nagra. Die Gemeinden in der Region «Lägern Nord» werden es tragen müssen. In ihr Fazit verpackt die GLP gleich zwei Forderungen: Der Bund sei in der Pflicht, die betroffenen Gemeinden maximal zu unterstützen und vorwärts zu machen mit dem Atomausstieg.
Von einem Endlager für hochradioaktive Brennelemente gehe eine unmittelbare Gefahr für Mensch und Umwelt aus «und das für Hunderttausende von Jahren». Die GLP hebt den Mahnfinger: Der Standort befinde sich neben einem grossen Grundwasservorkommen, in einem stark bevölkerten Gebiet und in Flughafennähe. Auch, dass die Nagra abgekomen ist von dem, was sie 2015 kommunizierte, wird kritisiert: «Dass die Nagra eine Kehrtwende vollzogen hat und der Standort Lägern Nord, der vor wenigen Jahren noch als ungeeignet deklariert wurde, nun der bestmögliche sein soll, erstaunt sehr.»
Die Grünliberalen der Bezirke Dielsdorf und Bülach schreiben weiter, sie unterstützten die Energiestrategie des Bundes. Es brauche jetzt aber eine unabhängige und wissenschaftliche Beurteilung des Standortes unter Einbezug aller Risiken, insbesondere des Gewässerschutzes, des Flugverkehrs und der tektonischen Verschiebungen mit Modellen über mindestens 10'000 Jahre. «Die Verantwortlichen müssen beweisen, dass sie die Menschen in den Gemeinden des Zwischenlagers ernst nehmen, für ihre maximale Sicherheit sorgen und sie auch angemessen entschädigen.»
Das Haberstal sieht gegenwärtig so aus. Es liegt am nördlichen Rand der Gemeinde Stadel. Der Bauernhof müsste den Oberflächenanlagen weichen. Das Bild unten wurde aus Richtung West aufgenommen, also talwärts.

Die Visualisierung zeigt, wie die Oberflächenanlagen im Haberstal dereinst aussehen könnten. Die Visualisierung zeigt nach Westen, also in die umgekehrte Richtung des oberen Bilds.

Die Nagra begründet ihren Entscheid anhand von drei Kriterien. Obwohl sich die drei Standorte grösstenteils ähneln, habe Nördlich Lägern gewisse Vorteile: Das im Wirtsgestein Opalinuston eingeschlossene Porenwasser sei im Zürcher Unterland am ältesten. Das weise darauf hin, dass es auch die beste Einschlusswirksamkeit habe. Ebenfalls sei der Standort aufgrund der Tiefe und den Gesteinsschichten, die über dem Opalinuston liegen, langfristig erosionsresistenter als Zürich Nordost oder Jura Ost. Zuletzt verfüge Nördlich Lägern über den grössten Bereich Opalinuston ohne Hinweise auf Störungen. Dadurch kann das Lager flexibel angeordnet werden. Die Nagra hat auf Youtube auch ein Video zum Entscheid veröffentlicht.
Ein Blick auf die Zahlen der vergangenen Tage zeigt: der Suchbegriff «Nördlich Lägern» trendete am Samstag. Also am Tag, als die Nagra den Standort-Vorschlag Stadel bestätigte. Mehr als 10'000 Abfragen zum Begriff gingen ein, und es war der fünfthäufigste des Tages (hinter «F1 Monza» und vor «Energy Air»). Mit mehr als 200'000 Anfragen war «Erdbeben Schweiz» der meistgesuchte Begriff des Tages. Am Sonntag und am frühen Montag taucht weder «Nördlich Lägern» noch ein anderer Suchbegriff mit Bezug zum Endlager in den Top 20 von Googles meistgesuchten Schlagworten auf.
Die EVP des Bezirks Dielsdorf bezeichnet den Standort-Vorschlag der Nagra am Montagmorgen als «schweren Schlag für die Bevölkerung der betroffenen Gemeinden und des ganzen Bezirks». Man nehme den Entscheid zur Kenntnis und stelle sich hiner das Ziel, Atommüll in der Schweiz endzulagern. «Weder die Bevölkerung noch die EVP sind Teil des Problems, sondern AKWs und deren Abfall sind das Problem – ein fataler Entscheid aus der Vergangenheit, den unzählige Generationen der Unterländer Bevölkerung nun wahrscheinlich tragen müssen.»
Die EVP fordert eine Überprüfung des Nagra-Entscheids durch ein unabhängiges Fachgremium unter Federführung des Kanton Zürichs. Offen ist für die die Frage, ob und wie den Bewohnerinnen und Bewohner von Standortgemeinden der Verlust an Lebensqualität und eine erhöhte Gesundheitsgefährdung angemessen vergütet wird. Die zweite Forderung ist deshalb «ein integrales Vergütungs-, Betriebs- und ntschädigungskonzept über viele Generationen, mit dem Ziel einen zukunftsfähigen, lebendigen Bezirk Dielsdorf zu erhalten».
Astrid Andermatt, die Co-Präsidentin des Vereins Nördlich Lägern ohne Tiefenlager (LoTi) spricht auf Anfrage dieser Zeitung von einer Neuorientierung. Die Verantwortlichen des Vereins hätten gemacht, was möglich gewesen sei. Allerdings sagt Andermatt auch, in den vergangenen Jahren – seit die Nagra 2015 kommuniziert hat, Nördlich Lägern sei nicht am besten für ein Endlager geeignet – sei die Aktivität im Verein merklich zurückgegangen. «Die Mitglieder blieben zwar im Verein und zahlten regelmässig ihren Beitrag ein.» Gemacht habe man aber nicht viel. Andermatt und ihre Co-Präsidentin Rosi Drayer werden ihre Ämter voraussichtlich niederlegen. Der Verein muss sich zumindest neu aufstellen, auch geografisch. Im Vereinsvorstand ist nur gerade ein Zürcher Unterländer, und aus Stadel ist niemand dabei. Indes glaubt Andermatt durchaus, dass sich Widerstand gegen Nördlich Lägern formieren wird.
Der Stiftungsfonds der Mitwelt Stiftung Oberrhein setzt sich laut der eigenen Website ein, um «Mensch, Natur und Umwelt zu schützen, Frieden und Menschenrechte zu bewahren, allen Menschen ein gerechteres Leben und eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen». Nun reagiert der Stiftungsfonds auf die Standort-Ankündigung der Nagra und verweist in einer Medienmitteilung gleich einmal auf die Geologie: «Die Veröffentlichung erfolgte zeitlich fast parallel zum Erdbeben mit Stärke 4,7 in der französisch-Schweizer Grenzregion.»
Stadel wird bezeichnet als «bester aller schlechten Standorte eines atomaren Endlagers in der Schweiz». Die Stiftung sieht darin «eine gewisse Verzweiflung der AKW-Betreiber und der Nagra». Die Geologie spreche jedenfalls gegen den Standort Nördlich Lägern. Denn: «Die Opalinustonschichten im Gebiet Nördlich Lägern sind im internationalen Vergleich sehr dünn, auch wenn die Nagra gerne die darüber und darunter liegenden tonhaltigen Schichten dazurechnet.» Für den Standort spricht laut der Mitwelt Stiftung, dass im Gebiet «Nördlich Lägern» die Atomlobby mit geringerem Widerstand rechne als im Weinland.
Auf Unverständnis stösst auch die Nähe zu Deutschland: «Ein grenznäherer Standort war schwer findbar», heisst es. Die Beteiligung betroffenen deutschen Anliegerinnen und Anlieger sei eine «mächtig aufgeblasene Illusion von Beteiligung». Rhetorische Frage der Stiftung: «Was würden die Menschen in der Schweiz sagen, wenn Deutschland seine gesamten atomaren Hochrisiko-Anlagen im Grenzgebiet konzentrieren würde?»
In Stadel und im angrenzenden Weiach ist von Widerstand gegen die Pläne der Nagra nichts zu sehen. Plakate mit gross aufgedruckten «Nein» gibt es zwar einige. Die meisten davon beziehen sich aber auf die Massentierhaltungsinitiative, einige weitere auf andere Vorlagen, über die am 25. September abgestimmt wird. Und auf dem Hof im Haberstal, wo das Tor zum Endlager wohl hinkommt, steht auf einem Schild «Achtung Kinder». Es richtet sich an allfälige Automobilistinnen und Automobilisten.
Nördlich Lägern ohne Tiefenlager (LoTi) ist nicht zufrieden mit dem Standortentscheid der Nagra. Der Verein will eine Eklärung, wieso die Standortwahl vom Vorschlag aus dem Jahr 2015 abweiche. Das sei eine fachlich-geologisch wie politisch irritierende Entwicklung, denn 2015 habe die Nagra die Standortregion Nördlich Lägern wegen ungünstigem Platzangebot in der bevorzugten Tiefe zurückzustellen, für die Nagra wäre Nördlich Lägern schon damals aus dem Verfahren ausgeschieden. LoTI fordert nun, dass der Atommüll jederzeit rückholbar sein müsse. Der Gewässerschutz im Allgemeinen in Stadel Haberstal müsse «nach strengen Massstäben auf den Prüfstand».
LoTi akzeptiert den Nagra-Entscheid nicht, heisst es in der Mitteilung vom Samstag weiter. Dazu werden Fragen gestellt, etwa, welche Parameter neu angewendet wurden, um zu diesem Resultat zu kommen, und «auf welchen Druck neu gewichtet» wurde, oder ob andere Regeln gegolten hätten.
Die Grünen des Kantons Zürich schreiben in ihrer Medienmitteilung von einer «grossen Belastung», die auf den Kanton Zürich und die ansässige Bevölkerung zukomme. Mit Blick auf die Sicherheit von Mensch und Natur und stellen sie Forderungen an den weiteren Planungsprozess: Atomausstieg, explizite Abbruchkriterien, externe wissenschaftliche Überprüfung und ständige Rückholbarkeit seien Bedingungen.
Auch die Grünen finden, die Schweiz müsse die Verantwortung für die eigenen atomaren Abfälle übernehmen. Aber nicht, ohne nachzuschieben, dass die Grünen diese Abfälle nie wollten. Den Standortvorschlag der Nagra für ein atomares Tiefenlager in der Region Nördlich Lägern nehmen man zur Kenntnis.
Thematisiert wird in der Mitteilung auch der Schutz der Bevölkerung und Umwelt vor den massiven Emissionen des Oberflächenbetriebs. «Wir sind solidarisch mit der Bevölkerung in den unmittelbar betroffenen Zürcher Gemeinden Stadel, Weiach, Zweidlen und Glattfelden.»
Der Müll bleibe eine hochgefährliche Hypothek für unzählige Generationen. Ohnehin müssten bei Einbussen der Lebensqualität in der Region Nördlich Lägern die betroffenen Einwohnerinnen und Einwohner und die Gemeinden entschädigt werden, und nachweisbare Wertverluste seien zu kompensieren.
31 Minuten nach der SP hat auch die SVP Kanton Zürich auf den Nagra-Entscheid reagiert. «Die SVP des Kantons Zürich anerkennt die Notwendigkeit, radioaktive Abfälle aus der Stromproduktion, Medizin, Industrie und Forschung langfristig sicher in der Schweiz zu entsorgen», heisst es darin. Insofern sind sich SP und SVP also einig. Gut sei, dass nun der Standortentscheid gefällt und ein wichtiger Schritt hin zum Endlager vollzogen sei.
Was die Standortgemeinden angeht, heisst es in der Mitteilung: «Die SVP erwartet von den Verantwortlichen, dass die Eigentumsrechte der Bürgerinnen und Bürger sowie die Gemeindeautonomie bei raumplanerischen Fragen gewahrt bleiben. Im Weiteren sind die unmittelbar von den Oberflächenanlagen betroffenen Standortgemeinden für die ihnen erwachsenden Lasten während des Baus und aufgrund des Betriebs des Tiefenlagers zu entschädigen.» Die Wertschöpfung soll im Kanton Zürich und in den betroffenen Regionen bleiben, und dafür müssten für Planung und Bau der Infrastrukturanlagen grundsätzlich einheimische Unternehmen berücksichtigt werden, fordert die SVP weiter.
Was die weiteren Schritte angeht, seien die Ergebnisse der Untersuchungen im Bereich Sicherheit transparent, verständlich und vollständig zu veröffentlichen. Zur Sicherheit gehörten auch die Zubringer-Transportrouten.
Die SP des Kantons Zürich reagierte schnell auf den Nagra-Entscheid, und sie spielt die Karte der Unsicherheit. «Noch sind zu viele Fragen offen», heisst es in einer Medienmitteilung, die am Samstag um 14.24 Uhr verschickt wurde. Konkret: Der Schutz des Tiefengrundwassers oder mögliche Erdgasvorkommen und die Rückholbarkeit der Abfälle. Letztere soll auf mindestens 150 Jahre hinaus sichergestellt werden. Wichtig für die Standortgemeinden sei, dass sie einbezogen werden in eine sozioökonomische Wirkungsstudie, die nun zu erstellen sei. Der Kanton müsse sie dabei unterstützen. «Schliesslich ist diese Wirkungsstudie eine wichtige Grundlage für die Verhandlung um die Abgeltung, die die negativen Auswirkungen eines solchen Tiefenlagers abdämpfen soll», heisst es.
Weiter fordert die SP, das unabängige Experten einbezogen werden, auch ausländische. Die Nagra müsse direkt dem Bund unterstellt und als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert werden. Denn nur so könne sie als unabhängige Institution ohne wirtschaftlichen Interessenskonflikt agieren. Insgesamt stehe die SP aber weiter hinter dem Grundsatzentscheid, dass Schweizer Atommüll in der Schweiz entsorgt werden müsse.
Am Montag um 9 Uhr ist die Medienkonferenz der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) angesagt. Eigentlich ist aber alles schon bekannt: Das Endlager soll nach Stadel kommen, die «heisse Zelle» nach Würenlingen, wie die Nagra gegenüber der «Tagesschau» von SRF am Samstag bestätigte. Das heisst: Die radioaktiven Abfälle werden im Kanton Aargau verpackt und erst dann ins Unterland geschickt. Der Kanton Zürich hatte sich dagegen gewehrt, neben dem Endlager auch noch die Last der heissen Zelle tragen zu müssen.
So oder so: Am Montag wird noch begründet werden, was genau den Ausschlag für diese Enscheide gegeben hat. Am Montagnachmittag wird noch eine zweite Medienkonferenz in der Region stattfinden. An dieser werden die zuständigen Regierungsräte, der jeweilige Präsident der Regionalkonferenz und auch das Bundesamt für Energie und die Nagra vertreten sein.
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