
Diese Spannung, diese Dramaturgie. Wie der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis seine Wiederaufbau-Konferenz in Lugano inszenierte, hätte den irischen Meisterpoeten und Literaturnobelpreisträger Samuel Beckett begeistert. Was Cassis tat, erinnerte an die Vollendung von Becketts Theaterstück «Warten auf Godot». Die Rolle des Godot gab Cassis einer lebenden Legende: dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski.
Keck stellte Cassis in Aussicht, Selenski könnte die Ukraine erstmals seit dem russischen Angriff verlassen und zu ihm in seine Tessiner Heimat reisen. Eine Sensation. Fragen über Fragen tauchten auf. Wie wird Selenski aus der Ukraine in die Schweiz geschleust? Was wird er sagen? Wie wird er auftreten? Wie wird sein olivfarbenes T-Shirt an den Gestaden des Lago di Lugano wirken? Wie wird die Schweiz ihn schützen? Und wie stark wird die Schweiz von diesem einmaligen Gast profitieren?
Selenski hier, Selenski da, immer abwesend, und doch immer präsent. Selbst am letzten Wochenende sprach Cassis in Interviews nochmals über ihn. Vorsichtiger zwar, aber noch immer Hoffnungsschimmer streuend. «Von unserer Seite tun wir alles Notwendige, um ihn aufnehmen zu können und ihm die bestmögliche Sicherheit zu bieten, falls er sich entscheidet, zu kommen», sagte Cassis.
Heute wissen wir: Wolodimir Selenski kommt am Montag nicht ins Tessin. Und auch am Dienstag wird er nicht da sein. Nach Lugano wird er sich per Videoleitung aus Kiew zuschalten. Alles gut. Alles verständlich.
Den Wiederaufbau der Ukraine prägen jene Staaten, die bereits heute Waffen liefern und Geld geben.
Die viel grössere Enttäuschung ist, dass sich kein Chef eines G-7-Staates an Cassis’ Ukraine-Wiederaufkonferenz aufmacht. Das gäbe der Konferenz ein anderes Gewicht und eine andere Ausstrahlung. Zwar reist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an. Aber ihr geht es hauptsächlich um Eigenes. In Lugano wird sie ein EU-Projekt präsentieren.
Die Lugano-Konferenz ist zweifellos ein wichtiger Akt der Solidarität der Schweiz gegenüber der Ukraine. Mehr aber auch nicht. Heute zeichnet sich nicht ab, dass am Lago di Lugano gewichtige Entscheide gefällt würden, die einen Einfluss auf die Staaten der EU und G-7 hätten. Das wäre aber nötig. Denn längst diktieren die wichtigsten Industriestaaten der Welt den Wiederaufbau in der Ukraine. Jene Staaten, die auch Waffen liefern.
Von der auch rund um Lugano zelebrierten, salbungsvollen Diplomatie sollte man sich nicht täuschen lassen. Am Ende entscheiden Politiker nüchtern und knallhart, was in der Ukraine passiert. Beim Wiederaufbau bestimmen jene Staaten, die heute schon Milliarden geben. Die Schweiz gehört nicht dazu.
Auf Ignazio Cassis und die Schweizer Aussenpolitik warten ganz andere Herausforderungen. Diese stehen mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in unmittelbarem Zusammenhang. Er hat die Sicherheitsarchitektur in Europa total verändert. Die Organisation für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war lange ein Grundpfeiler für die europäische Sicherheitspolitik, an den sich auch die Schweiz anlehnte. Querelen haben die OSZE aber enorm geschwächt. Gestärkt hat der Krieg hingegen das Militärbündnis Nato, mit dem die Schweiz eine Partnerschaft für den Frieden pflegt.
Ein Zugehen der Schweiz auf die Nato macht Sinn, weil das Zeitalter der grossen Kooperationen längst in Gang ist.
Die Aussenpolitik muss nun definieren, wie nah oder distanziert das künftige Verhältnis sein soll. Aktuell sieht es eher danach aus, als ob sich die Schweiz dem Militärbündnis weiter annähert. Eine Annäherung würde jedenfalls ins Konzept der «kooperativen Neutralität» passen, das Cassis diesen Frühling präsentiert hat. Bewegt sich die Schweiz weiter auf die Nato zu, dürfte dies vor allem bedeuten, dass sie mehr an Militärmanövern teilnimmt. Die gehässigen innenpolitischen Grundsatzdebatten würden noch gehässiger.
Die Vorteile eines weiteren Zugehens auf die Nato sind offensichtlich. Das Zeitalter der grossen Kooperationen zwischen Staaten auf verschiedenen Ebenen ist längst angebrochen. Die Corona-Pandemie machte Kooperationen notwendig. Die drohende Energie- und Rohstoffkrise ist ohne gegenseitige Unterstützung schlicht nicht bewältigbar. Und auch die künftige westliche Sicherheitspolitik ist ohne ein breit abgestütztes, zwischenstaatliches Handeln schlicht nicht vorstellbar. Dem muss sich die Schweiz stellen. Auch zu ihrem eigenen Schutz muss sie sich in Kooperationen begeben.
Als verlässliche Partnerin bietet sich die Schweiz ab 2023 auch im UNO-Sicherheitsrat in New York an. Doch die Situation im Rat erweist sich für sie als komplex. Die Schweiz hat nämlich gleich mit drei der fünf Veto-Mächten grosse Spannungen. Mit Russland wegen des Ukraine-Kriegs und der von der Schweiz mitgetragenen, westlichen Sanktionen. Missverständnisse gibt es aber auch mit China. Die Schweiz möchte seit längerem das schweizerisch-chinesische Freihandelsabkommen überarbeiten. Doch China blockt ab, erst recht, seitdem der Bundesrat im letzten Jahr seine Tonalität zur dortigen Menschenrechtslage verschärft hat.
Ignazio Cassis muss dringend das Zerwürfnis mit Frankreich angehen.
Als wären da nicht schon genug Konflikte, hat die Schweiz auch mit Frankreich ein Problem. Nachdem die Schweiz Frankreich beim Kampfjetkauf trotz grosszügigen Gegenleistungen übergangen hat, ignoriert die Grande Nation ihre kleine Nachbarin bei fast jeder Gelegenheit.
Ignazio Cassis muss noch vor dem Einzug der Schweiz in den Sicherheitsrat versuchen, die Beziehungen zum einen oder anderen der drei Veto-Staaten zu reparieren. Sollte der Schweizer Aussenminister den fälligen Schritt auf Frankreich zu machen, könnte er auch gleich – einmal mehr – seinen guten Willen demonstrieren, sich mit der EU bei den institutionellen Streitfragen zu einigen.
Ohne Abkommen wird es für die Schweiz nicht einfacher, künftig ihre «kooperative Neutralität» zu leben. Denn wo es Kooperation geben soll, muss es Partner geben. Partner, die die Schweiz heute nicht hat. So gesehen, kann die Ukraine-Konferenz auch hilfreich sein. Sie führt uns schonungslos vor Augen, wie einsam es um die Schweiz geworden ist.
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Kommentar zur Schweizer Kriegs-Diplomatie – Die Schweiz braucht dringend Partner
Die Wiederaufbau-Konferenz in Lugano ist eine wichtige solidarische Geste an die Ukraine – auch ohne Selenski und ohne G7-Staatschefs. Die Probleme, die Aussenminister Ignazio Cassis jetzt lösen muss, liegen aber anderswo.