Robert Lewandowski und Gerd MüllerDie Tormaschine holt den Instinktfussballer ein
Der ewige Bundesligarekord ist nicht mehr: Robert Lewandowski erzielt in Freiburg sein 40. Saisontor und erweist Gerd Müller im Moment des Treffers die Ehre.

Manchmal passiert Geschichte, und man merkt es gar nicht. Die 28’000 Zuschauer im Stadion an der Grünwalder Strasse zum Beispiel hatten damals keine Ahnung vom Hauch der Historie, als Gerd Müller 1972 am 32. Spieltag zum 6:3 gegen Frankfurt traf. Es war wie fast alle Gerd-Müller-Tore ein typisches Gerd-Müller-Tor, zwei Eintracht-Verteidiger machten einen Fehler, Müller ahnte das blitzschnell und schoss zum 6:3 ins Netz. Er jubelte kurz, es war sein drittes Tor in der zweiten Halbzeit, nichts Besonderes. Zwei Spiele standen ohnehin noch aus und überhaupt: Wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde.
In der Zukunft, die jetzt die Gegenwart ist, wusste man dagegen ganz genau, welche Zeit gekommen war. 48 Jahre, 345 Tage, 22 Stunden und ungefähr 51 Minuten waren vergangen, als Robert Lewandowski am Elfmeterpunkt in Freiburg stand. Er lief an, verzögerte, schickte den Niederländer Mark Flekken in die falsche Ecke, und der Bundesligarekord, von dem man dachte, er würde ewig halten, war nicht mehr.
Lewandowski zog beim Jubeln sein Trikot hoch, darunter ein T-Shirt mit dem Konterfei von Gerd Müller und der Botschaft «4ever Gerd», «Für immer Gerd». «Was Gerd Müller geschafft hat, war unglaublich», sagte Lewandowski später. «Ich hätte nie gedacht, dass ich es schaffen könnte, mit ihm einen Rekord zu haben. Ich bin sehr stolz und kann es noch gar nicht glauben.»
«Ich hätte nie gedacht, dass ich es schaffen könnte, mit ihm einen Rekord zu haben.»
Seine Mitspieler bildeten nach seinem Treffer ein Spalier, jeder beglückwünschte ihn, und auch diese Geste war Teil einer grösseren Geschichte. Lewandowski galt lange Zeit nicht als grösster Teamplayer. Erst in den vergangenen Jahren änderte sich das - prompt wurde er Weltfussballer, nun der Bundesligarekord. «Tore schiesst man nicht allein. Man braucht Spieler, die einen bedienen», sagte sein Trainer Hansi Flick. Lewandowski meinte: «Der Rekord gehört der ganzen Mannschaft. Auf der Liste steht nicht nur mein Name, sondern der der ganzen Mannschaft.»
Für die grössere Einordnung war dann natürlich ein Müller zuständig. «Gerd Müller hat diesen Verein mit seinen Toren erst dahin gebracht hat, wo wir jetzt stehen. Ohne ihn würde der Verein, so wie er jetzt existiert, nicht existieren.» Müller, also Thomas, holte übrigens auch den Elfmeter raus, den Lewandowski verwertete. Was zur Fussnote führt, dass in der Statistik zum 40. Tor des Polen nun immer «Vorbereitung: Müller» stehen wird. Manchmal bindet der Fussball schon schöne Schleifen.

Thomas Müller hatte selbst noch unter Gerd Müller seine ersten Schritte beim FC Bayern gemacht. Der war damals Co-Trainer der Amateurmannschaft. Dann erkrankte er an Demenz, wird heute von seiner Frau Uschi Müller gepflegt, das Tor von Lewandowski hat er wahrscheinlich nicht mehr bewusst wahrgenommen. Aber vor dem Spiel sprach Uschi Müller mit der «Sport-Bild». Ihr Mann kenne keine Neidgefühle, sagte sie, er wäre der Erste, der gratulieren würde, der sagen würde: Gut gemacht, Junge. Du bist super.
Paul Breitner, damals Mitspieler von Müller, äusserte sich ähnlich. «Wenn er könnte, dann würde Gerd heute auf der Tribüne sitzen und bei jedem Tor von Lewandowski mit der Zunge schnalzen. Er war so ein wunderbarer, fairer Mensch – er würde es einfach nur geniessen.»
90 Tore fehlen noch
Lewandowski und Müller, zwei herausragende Spieler aus zwei unterschiedlichen Zeiten. Der eine ass mit Leidenschaft Kartoffelsalat mit Gurken, der andere hat eine Ernährungsberaterin zur Frau. Ein moderner Athlet und ein Instinktfussballer, wobei, wenn man sich die alten Tore von Müller und die neuen Tore von Lewandowski anguckt, sieht man erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Beide hatten ein unglaubliches Gespür für die Situation. Viele ehemalige Spieler sagen, dass Gerd Müller von allen Fussballern der Vergangenheit in der Gegenwart mit seinen Fähigkeiten am besten zurechtkäme. Manche sagen sogar: Besser zurechtkäme als mit den beinharten Verteidigern der Vergangenheit.
Am kommenden Wochenende kann Lewandowski auf 41 Tore davon ziehen. Es gibt nicht wenige, die sich wünschen, dass sich die beiden den Rekord teilen. Aber selbst wenn Lewandowski gegen Augsburg treffen sollte, sollte man nicht vergessen, dass Gerd Müller 365 Bundesligatore geschossen hat, für jeden Tag im Jahr ein Tor – aktuell noch 90 mehr als Lewandowski. Das sind mindestens noch drei Saisons auf höchstem Niveau. Und das muss auch der Weltfussballer erstmal hinkriegen.
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