Ein Gesicht aus der Vergangenheit
Erstmals haben Forscher aus der DNA das Gesicht einer Verwandten der Neandertaler rekonstruiert. Das Porträt ist jedoch umstritten.

Ein wenig ernst sieht das Mädchen auf dem Bild aus. Die dunkle Stirn ist leicht gerunzelt, der breite Mund etwas geöffnet. Grosse Zähne hatte das Kind, olivfarbene Haut und zottelige dunkle Haare. Die Augen sind mandelförmig und braun. Es ist kaum zu erkennen, dass es sich bei diesem etwas verwahrlosten Wesen nicht um einen modernen Menschen handelt, sondern um einen unserer engsten, längst ausgestorbenen Verwandten. Das Porträt zeigt einen Denisova-Menschen. Er verschwand vor etwa 50'000 Jahren von der Weltbühne. Das eigentlich Besondere an dem Bild aber ist: Es ist auf der Grundlage eines winzigen Knochenfragments entstanden.
Erstmals in der Geschichte haben Wissenschaftler aus Zehntausende Jahre altem Erbgut die Gestalt und das Antlitz einer ausgestorbenen Homo-Spezies rekonstruiert. Das Team um David Gokhman von der US-Universität Stanford und Liran Carmel von der Hebrew University in Jerusalem nutzte für seine Studie lediglich die verwitterte DNA aus dem Knochenstück eines Kinderfingers. Das Relikt war 2008 in der Denisova-Höhle in Sibirien gefunden worden.
Eine klassische Rekonstruktion anhand des Schädels wäre nicht möglich gewesen. Von den Denisovas hat man bislang nur wenige Zähne, den Teil eines Unterkiefers und das besagte Stück Knochen eines kleinen Fingers gefunden. Die israelischen Paläogenetiker entwickelten daher ein neuartiges Verfahren, um aus der erblichen Information auf äussere Merkmale der Frühmenschen zu schliessen.
Aus sehr alter DNA lesen
Dabei mag es zunächst fast trivial erscheinen, aus dem Erbgut etwas über Äusserlichkeiten zu erfahren – schliesslich gilt das Erbgut eines Lebewesens als Bauplan, der naturgemäss auch die Gestalt bestimmt. Doch insbesondere bei eng verwandten Spezies wie Neandertalern, Denisova oder modernen Menschen machen die Gene selbst meist kaum den Unterschied aus.
Breitere Schultern, längere Finger oder ein fliehendes Kinn entstehen vielmehr dadurch, dass vorhandene Gene im Vergleich weniger oder mehr aktiv sind. Erledigt wird dieser Modulierungsjob von der sogenannten Epigenetik, die auf vielfache Art regelt, wie häufig eine Erbinformation gelesen wird. Dazu gehört vor allem die Methylierung von DNA. Die Zelle versieht bei diesem Prozess die Bausteine des Erbguts mit kleinen chemischen Anhängseln, die zumeist die Aktivität des Gens senken. Wenn auf Dauer sehr viele solche Anhängsel an einem Gen heften, werden sie auch vererbt. Und so entsteht zwar kein neues Gen, aber eine Eigenschaft, die alle Vertreter einer Art teilen.
«Die Denisova hatten einen sehr breiten Schädel und eine flachere Stirn als Neandertaler.»
Gokhman/Carmel haben sich diesen Umstand für ihre Arbeit umfänglich zunutze gemacht, denn seit einigen Jahren ist es möglich, auch aus sehr alter, beschädigter DNA zu lesen, welche Gene stark methyliert waren. Vor zwei Jahren legten die israelischen Forscher erstmals sogenannte Methylierungskarten für das Erbgut von Neandertalern und Denisova-Menschen vor.
Für die aktuelle Studie mussten die Genetiker allerdings noch einiges mehr tun, denn selbst methylierte Erbanlagen verraten noch nichts über ihre Wirkung aufs Äussere – oder darüber, ob sie eine besondere Eigenschaft des Denisova-Menschen darstellen. Dazu muss bekannt sein, wie aktiv die betreffenden Gene bei anderen Menschenarten sind und welche Funktion sie haben. Erst der Vergleich mit mehr als 60 Genomen von Neandertalern, altertümlichen und heutigen Menschen kreiste jene Methylierungsmuster ein, die typisch für Denisova-Menschen sind.
Zweifel am Ergebnis
Anschliessend nutzte das Team eine Datenbank, in der unter anderem die Auswirkungen genetischer Veränderungen oder Defekte auf die Morphologie des menschlichen Skeletts oder des Schädels verzeichnet sind. Da ausgeschaltete oder wenig aktive Gene nach Auffassung von Gokhman und Kollegen ähnliche Effekte zeitigen wie defekte oder veränderte Gene, konnten sie den besonderen Methylierungen nun auch Eigenschaften zuordnen.
«So könnte sie ausgesehen haben», sagte Liran Carmel am Donnerstag auf einer Pressekonferenz an der Universität in Jerusalem und zog mit einem Ruck das Tuch von einer nach den Forschungsergebnissen modellierten Büste des Denisova-Mädchens. Insgesamt fanden die Wissenschaftler 56 anatomische Eigenschaften, die typisch für die Denisova sind, 34 davon betreffen den Schädel. «Sie sind dem Neandertaler ähnlicher als dem modernen Menschen, aber sie haben eine flachere Stirn. Und sie haben einen sehr breiten Schädel», sagte Carmel.
Die Forscher zeigten sich zuversichtlich, mit ihrem Resultat sehr nahe an der Wahrheit zu liegen. Man habe die Genauigkeit der Methode an zwei eng verwandten Arten mit bekannter Anatomie getestet, nämlich am Neandertaler und am Schimpansen, sagte Carmel. «Das ergab eine Genauigkeit von 85 Prozent.» Mit dieser Treffsicherheit sei man in der Lage gewesen, das anatomische Profil zu rekonstruieren.
Geschlechts- oder altersspezifische Unterschiede blieben unerkannt.
Ganz so enthusiastisch sehen andere Experten das allerdings nicht. Der Paläogenetiker Ludovic Orlando von der Universität im französischen Toulouse hält die Idee der israelischen Kollegen zwar für clever, kritisiert jedoch Methodik und Schlussfolgerungen. «Ein Teil der Methylierungsgruppen und damit Eigenschaften, die hier als spezifisch für Denisova-Menschen beschrieben werden, waren wohl nur für dieses eine Individuum charakteristisch.» Welche das seien, wisse man aber nicht. Ein Problem bleibe, dass nur ein Denisova-Genom zur Verfügung stehe, aus dem sich Methylierungsdaten ableiten liessen, damit gestalte sich eine Generalisierung schwierig.
Auch geschlechts- oder altersspezifische Unterschiede blieben deshalb unerkannt. «Man darf ausserdem nicht vergessen, dass die äusseren Merkmale aus einer Datenbank abgeleitet wurden, die genetische Funktionsverluste in modernen Menschen beschreibt», ergänzt Orlando. Wie sich die gleichen Veränderungen im Denisova-Menschen ausgewirkt hätten, könne man nicht mit Sicherheit sagen. «Mein Eindruck ist, dass die Schlussfolgerungen übertrieben sind.» Der Experte für die Methylierung alter DNA hätte sich gewünscht, dass die Forscher die Methode erst an Frühmenschen erprobt hätten, für die mehr hochwertige Genome verfügbar sind.
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