Politologin Cloé Jans im Jahreswechsel-GesprächEs ist Wahljahr, welche Partei macht ihren Job derzeit am besten?
Der grüne Erdrutschsieg war 2019. Und heuer? Politologin Cloé Jans sagt, warum die SP verliert, obwohl ihre Spitze vieles richtig macht – und wer die möglichen Sieger sein werden.

Was macht Ihnen im Moment am meisten Sorgen, Frau Jans?
Es beschäftigt mich, dass wir in der Schweiz grosse Themen haben, in denen politischer Handlungsbedarf bestünde und wir trotzdem nicht vom Fleck kommen. Der Kompromiss gilt zunehmend als Schwäche. Früher war die Notwendigkeit, ständig Politik für die eigene Basis zu machen, noch weniger die treibende Kraft hinter politischen Entscheidungen. Das hat sich in den vergangenen Jahren verändert.
Woran machen Sie das fest?
Wir erleben auch in der Schweiz eine Art permanente Kampagne, bei der politische Inhalte oft stark emotionalisiert werden. Das macht Lösungen schwierig. Die politische Polarisierung spielt bei dieser Entwicklung eine grosse Rolle – das lässt sich aber auf der ganzen Welt beobachten.
Bei welchen Themen beobachten Sie diese Entwicklung?
Nehmen Sie die Altersvorsorge, bei der man seit langem nicht vorwärtskommt, das Patt in der Europafrage oder die ausgewogene CO₂-Vorlage zum Klimaschutz, die letztes Jahr dennoch abgelehnt wurde. Bei diesen Reformen beobachte ich einen Profilierungsdrang der Parteien statt einen echten Gestaltungswillen. Damit nehmen sie ihre Verantwortung nicht wahr. Ich bin ja noch nicht so alt und verspüre dennoch einen gewissen Zukunftspessimismus. Ich würde mir wieder mehr Leidenschaft bei der Pflege unserer Demokratie wünschen.
«Viele fürchten, dass wir unseren Lebensstandard nicht halten können.»
2019 erlebten wir eine Frauen- und eine Klimawahl. Lässt sich heute schon sagen, was uns in diesem Wahljahr erwarten wird?
Im Winter vor vier Jahren zeichnete sich zwar ab, dass die Themen Gleichstellung und Klima zentral werden würden. Nicht absehbar war aber, mit welcher Wucht sie einschlagen würden. Aktuell befinden wir uns in einer krisenhaften Zeit. Die Stimmung ist von Unsicherheit geprägt, das wird den Ton für die Wahlen setzen, vorrangig im Bereich der Strom- und Energieversorgung, die trotz des milden Winters ein strukturelles Problem bleibt. Wir nehmen im «CS Sorgenbarometer» auch allgemein einen grossen Wirtschaftspessimismus wahr. Viele fürchten, dass wir unseren Lebensstandard nicht halten können. Auf dieses Problem muss die Politik eine Antwort liefern.
Und welcher Partei nützen die Unsicherheit und der Pessimismus bei den Wahlen?
Das Wahlverhalten der Menschen bleibt grundsätzlich stabil. Wen man wählt, hat fast ausschliesslich mit der eigenen Biografie zu tun, mit der persönlichen Prädisposition, wie wir Politologinnen sagen. Entscheidend sind also Faktoren wie das Elternhaus, die berufliche und familiäre Situation. Darum ist es für den Wahlerfolg viel entscheidender, welche Partei am besten mobilisieren kann, wer sein Potenzial ausschöpft.
Also fragen wir anders: Wem werden die aktuellen Sorgen der Bevölkerung am ehesten bei der Mobilisierung helfen?
Unsicherheit nützt in der Tendenz der SVP und der FDP. Das hat mit der Wahrnehmung dieser Parteien zu tun. Die Wählerschaft traut ihnen am ehesten Kompetenz in Wirtschaftsfragen zu. An dieser Wahrnehmung muss eine Partei sehr lange arbeiten – und sie ist auch nicht immer gerechtfertigt. Nicht selten hat das auch Streitpotenzial: So finden es zum Beispiel viele Leute in der SP gar nicht lustig, dass man den Grünen mehr Kompetenz in der Klimafrage zutraut, obwohl sie sich schon genauso lange für die Umwelt einsetzen.
Die Wahlentscheidung von der Wahrnehmung einer Partei statt von deren tatsächlichem Leistungsausweis abhängig zu machen, wirkt irrational.
Wie wir etwas wahrnehmen, bestimmt nun mal unser Leben. Nehmen Sie die SVP: Heute ist sie die Partei, die von Personen mit tiefem Einkommen und tiefer Bildung am meisten gewählt wird – Personen, die häufig auf ein staatliches Sicherheitsnetz angewiesen sind. Die Wirtschaftspolitik der SVP setzt aber auf einen schwachen Staat, richtet sich eher an Unternehmen und Gutverdienenden aus und widerspricht damit häufig den Interessen ihrer Kernwählerschaft.
«Es braucht für Heranwachsende möglichst früh eine politische Grundbildung.»
Warum entscheidet sich diese Wählerschaft also für die SVP?
Der SVP hilft es, dass viele Wahlentscheide entlang der kulturellen Achse fallen. Heisst: Sobald eine Migrationsfrage oder eine Massnahme gegen den «Woke-Wahnsinn» diskutiert wird, treten die wirtschaftlichen Zusammenhänge in den Hintergrund. Generell ist es wichtig, die Leute so zu bilden, dass sie politisch informierte Entscheidungen treffen können. Wir beobachten nämlich zunehmend eine Überforderung mit den Inhalten der Politik – und das führt zur Desillusionierung.
Nicht selten endet Desillusionierung in der totalen Abkehr vom politischen System. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt. Wie holt man diese Bevölkerungsteile wieder zurück?
Das ist eine schwierige Frage. Während der Pandemie kamen Befürchtungen auf, es werde sich eine nachhaltig erfolgreiche Protestpartei bilden. Dann hat sich gezeigt, dass das nur ein Sturm im Wasserglas war. Aber um die Leute wieder zurückzuholen, die sich während der Pandemie von der Politik und gewissermassen auch von gesellschaftlichen Strukturen zurückgezogen haben, bräuchte es jetzt Basisarbeit. Vielen fehlt es zum Beispiel elementar an Medien- und Informationskompetenz.
Sprich: Für die etablierte Politik sind diese Leute verloren.
Sie muss sich einfach bewusst sein, dass sie früh anfangen muss, sich um diese Leute zu kümmern, damit sie nicht in einem schwarzen Loch von Desillusion und Misstrauen verschwinden. Es braucht für Heranwachsende möglichst früh eine politische Grundbildung. In Vereinen können sie zudem demokratische Grundprinzipien erlernen.
Das klingt gut, aber was ändert eine politische Grundbildung konkret?
Wie wichtig das ist, zeigen die Resultate unserer «easyvote-Studie», die wir an Berufsschulen und Gymnasien durchgeführt haben. Auch am Gymnasium sind die Schülerinnen und Schüler einigermassen abgelöscht, aber krass ist es in den Berufsschulen.
Wie zeigt sich das an den Berufsschulen?
Dort ist das Vertrauen in die Institutionen, in Politik und Medien klein. Das soll jetzt keine Kritik an der Berufsschule sein, sondern einfach zeigen, dass man schon ganz früh die Medien- und Informationskompetenz fördern muss – denn das ist letztlich Demokratiekompetenz. Sonst sind die Leute für die etablierte Politik tatsächlich verloren.
Kehren wir zu denen zurück, die teilnehmen wollen. Wer entscheidet eigentlich, worüber in einem Wahljahr gesprochen wird? Die Medien? Die Parteien?
Hier ist die Forschung sehr eindeutig: Parteien können keine Themen von sich aus setzen. Sie können ein Thema hochkochen und verstärken. Oder dafür sorgen, dass es zugespitzt und knackig in den Medien kommt. Oder eine Volksinitiative lancieren. Aber es waren in der jüngeren Vergangenheit meist globale Zusammenhänge, die bestimmten, ob ein Thema dominant wird – siehe 2019 die Klimapolitik und die Frauenfrage. Letztere wurde wegen der #MeToo-Bewegung auch in der Schweiz zum grossen Wahlkampfthema.
Worüber die Schweiz in einem Wahljahr diskutiert, lässt sich also gar nicht steuern.
Zumindest kann es kaum durch die Politik in der Schweiz beeinflusst werden. Und die Parteien müssen rasch reagieren: Sollen sie auf ein aktuelles Thema aufspringen oder nicht?
«Natürlich müssen alle Parteien auf die grossen Fragen Antworten haben – aber kurzfristige Stunts bringen selten etwas.»
Sollen sie?
Natürlich müssen alle Parteien auf die grossen Fragen Antworten haben – aber kurzfristige Stunts bringen selten etwas. Nehmen wir das Beispiel FDP: Sie musste sich 2019 aus der Not plötzlich auch zum Umweltthema positionieren. Ihre Klassiker waren nicht auf der Agenda, sie musste eine Antwort auf das virulenteste Thema haben. Funktioniert hat es nicht wirklich, die FDP hat bei den Wahlen verloren.
Welche Alternative hätten die Parteien denn? Sie können ja nicht schweigen zu den grossen Fragen.
Sie müssten sich viel stärker auf die Mobilisierung fokussieren, nur so können sie ihr Potenzial möglichst gut ausschöpfen. Erschwerend – oder erleichternd – kommt hinzu, wie gefestigt die Basis einer Partei ist.
Und wer profitiert in der Schweiz von der zuverlässigsten Basis?
Bei der SVP ist die Basis stark gefestigt. Wer SVP wählt, der kann sich kaum vorstellen, eine andere Partei zu wählen. Die Volkspartei hat darum ein begrenztes Potenzial – aber ein sehr treues. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Grünliberalen. Deren Wählerschaft kann sich sehr wohl vorstellen, eine andere Partei zu wählen: die Grünen oder die Freisinnigen zum Beispiel, sogar die SP. Die Wählerbindung ist bei der GLP viel volatiler.
Weil die GLP als Partei in der politischen Mitte auch thematisch vager ist?
Ja. An den politischen Polen wählt man eine Partei aus inhaltlicher Überzeugung, in der Mitte oft aus Mangel an Alternativen, weil man etwas Neues ausprobieren möchte oder findet, dass diese Partei oft zu Lösungen beiträgt.

Sie haben vorhin ausgeführt, wie die Unsicherheit den bürgerlichen Parteien hilft. Spielt der gleiche Effekt auch links?
Tatsächlich sieht es für den linken Block insgesamt nicht nur schlecht aus. Interessant werden die Bewegungen innerhalb dieses Blocks. Den Grünen wird in der Klimafrage eine hohe Kompetenz zugeschrieben. Das hat den Nachteil, dass sie als monothematisch wahrgenommen werden. Wird das Klima als Thema nicht grösser, wonach es im Moment aussieht, dann erwarte ich eher wieder einen Vorteil für die SP.
Im Sorgenbarometer steht das Klima immer noch auf Platz 1. Warum zeichnet sich das nicht stärker in der politischen Debatte ab?
Das Nein zum CO₂-Gesetz war eine Art Erweckungsmoment. Seither ist einiges geschehen. Den meisten Leuten ist klar, dass wir die erneuerbaren Energien ausbauen müssen und keine Ölheizungen mehr einbauen sollten. Aber: Die allgemeine Unsicherheitslage führt dazu, dass die Leute die Klimafrage anders beurteilen. Wir sind im Moment im Überlebensmodus, die Probleme sind konkret – und nicht abstrakt wie das Thema Klimawandel für viele oft noch ist. Wir kehren in diesem Wahljahr zurück zu zutiefst materialistischen Themen, 2019 war postmaterialistisch geprägt.
Das werden die jungen Klimaschützer und viele Frauen nicht gerne hören. Für sie bedeuteten die Wahlen 2019 eine Veränderung.
Für die Profiteure der letzten Wahlen sind das keine guten Nachrichten. Vor vier Jahren diskutierten wir wie in den 70er-Jahren, als der Wohlstand gross war und die Wirtschaft boomte. Heute befinden wir uns in der Debatte eher in den Jahren des Weltkriegs, als es darum ging, wieder genügend Kartoffeln anzupflanzen.
Jetzt übertreiben Sie.
Ja, ein bisschen. Trotzdem: Damals wurden auf dem Zürcher Sechseläutenplatz tatsächlich Kartoffeln angepflanzt. Heute geht es eher darum, möglichst viele freie Flächen mit Solarpanels zu versehen. Wie wir durch den Winter kommen, ist heute wieder eine reale Frage. Wer hätte das gedacht!
Sie sagen, das Wahljahr wird eher materialistisch geprägt sein – die Jungen sind aber eher postmaterialistisch eingestellt.
Das stimmt zwar, spielt aber keine Rolle, solange der durchschnittliche Wähler 57 Jahre alt ist. Ausserdem haben viele junge Leute auch reale Zukunftssorgen und Unsicherheiten.
Vom «Überlebensmodus», wie Sie es nennen, profitieren vorab die Bürgerlichen. Für wen werden die Wahlen denn besonders verheerend?
Für die SP wird das Wahljahr wohl nicht allzu lustig, darauf weisen lang- und kurzfristige Trends hin. Dabei macht die Parteileitung vieles richtig.
Tatsächlich?
Ja, ein entschieden progressiver Kurs in Gesellschaftsfragen in Kombination mit einem starken Fokus auf Sozialstaat und Umverteilung ist die richtige Strategie – das zeigt die neueste Forschung. Klare Positionierungen zum Minderheitenschutz und zu Gender-Fragen führen aber offenbar gleichzeitig zu Konflikten innerhalb der Parteielite, ähnlich wie bei der FDP beim Klima.
Sie sagen, die SP-Spitze mache es richtig – und trotzdem wird es für die Partei schwierig?
Die strukturellen Probleme der grossen Volksparteien bleiben bestehen, der Trend ist nicht nur in der Schweiz zu beobachten. Diese Parteien erleben den grossen Niedergang.
Das Co-Präsidium der SP war nach den Bundesratswahlen in der Kritik: Die Partei habe die Ausmarchung um den SP-Sitz in den Sand gesetzt und bei der Departementsverteilung verloren. Sehen Sie das auch so?
Die SP kann als Gleichstellungspartei nicht ohne Frau im Bundesrat vertreten sein. Natürlich hätte man der Diplomatie halber noch warten können, bis die Fraktion später zum gleichen Schluss gekommen wäre – aber das Ergebnis wäre dasselbe geblieben. Es würde mich zudem überraschen, wenn die Entscheidung der SP-Spitze ausschlaggebend für die Departementsverteilung gewesen wäre. Der Bundesrat bleibt mit je zwei Vertretern der SVP und der FDP klar bürgerlich geprägt, und diese Parteien können im Zweifel auch ihre Interessen durchsetzen.
Gibt es neben der FDP und der SVP weitere Parteien, die optimistisch ins Wahljahr starten können?
Anlass für Optimismus haben die Grünliberalen. Sie gewinnen in den kantonalen Wahlen und haben im Wahlbarometer immer noch den grössten Zuwachs. Die GLP ist perfekt in der Mitte aller Themen. Wirtschaft, Sicherheit – und die Umwelt bleibt trotzdem wichtig. Sie ist praktisch die einzige Partei, die sich in der Europapolitik klar positioniert, und in der Gesellschaftspolitik ist ihr Kurs ebenfalls erfolgreich. Es könnte nicht besser laufen für die Grünliberalen.
«Ein alter Mann kann zwar versuchen, sich einzufühlen, er kann die Antennen offenhalten – aber er kann nie gleich gut Politik für junge Frauen machen, weil ihm die unmittelbare Erfahrung fehlt.»
Es hilft auch, dass die Partei von Medien und Politologinnen geliebt wird.
Man könnte auch sagen, sie ist eine Partei, die bei vielen Themen nur wenig greifbar ist. In ihr Profil kann alles hineinprojiziert werden. Das müsste schärfer werden, wenn sie eine verlässlichere Wählerschaft erhalten möchte. Der GLP fehlt ein stabiles Fundament.
Vor der Bundesratswahl diskutierte die Schweiz über die richtige Repräsentanz in der Regierung. Wäre eine junge Mutter im Gremium tatsächlich wichtig gewesen?
Zahlreiche Studien zeigen, dass es sehr wichtig ist, Vorbilder zu haben, mit denen die Menschen sich identifizieren können. Wenn Frauen gewählt werden, getrauen sich andere Frauen eher, ebenfalls anzutreten. Kommt hinzu: Ein alter Mann kann zwar versuchen, sich einzufühlen, er kann die Antennen offenhalten – aber er kann nie gleich gut Politik für junge Frauen machen, weil ihm die unmittelbare Erfahrung fehlt.
Aber auf diesem Eindenken beruht doch unsere direkte Demokratie. Nicht alle Bevölkerungsgruppen werden gleichermassen in der Politik abgebildet, trotzdem machen die Amtsträger Politik für alle.
Der eigene Erfahrungsschatz ist nie zu ersetzen. Darum wäre eine Regierung, die sowohl kompetent als auch möglichst divers zusammengesetzt ist, schon wünschenswert.
Wie würde denn Ihr Wunschbundesrat aussehen?
Über die parteipolitische Zusammensetzung können wir erst nach den Wahlen reden. Ich würde mir aber schon eine Verjüngung wünschen. Das Durchschnittsalter im Bundesrat liegt bei 61 Jahren – also knapp vor der Pension. Natürlich sind die Jungen auch selber schuld, weil sie sich zu wenig am demokratischen Prozess beteiligen. Dennoch finde ich es schade, dass im Bundesrat zu wenig unterschiedliche Erfahrungsschätze abgebildet sind.
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