Eritreer aus Wädenswil ZH«Getötet, ohne ein Mörder zu sein»
Vor einem Jahr stiess ein im Kanton Zürich lebender Flüchtling im Frankfurter Bahnhof einen achtjährigen Buben
vor einen ICE – wohl im Wahn. Nun beginnt der Prozess.

Ein Tag, scheinbar wie jeder andere. Reisende warten auf ihre Züge. Unversehens stösst ein Mann eine Mutter und ihren Sohn vor einen einfahrenden Intercity-Express. Die Frau kann sich retten, indem sie sich zur Mitte des Gleisbettes dreht, der achtjährige Bub wird überrollt und stirbt vor Ort. Der Täter, selbst dreifacher Vater, versucht noch, eine 78-jährige Frau über die Kante zu stossen, diese stürzt auf den Perron. Dann ergreift er die Flucht, wird von Zeugen verfolgt und ausserhalb des Bahnhofs von der Polizei festgenommen.
Was sich am 29. Juli 2019 auf Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs zugetragen hat, als der damals 40-jährige Eritreer Habte A. plötzlich drei ihm unbekannte Menschen angriff, wirkt auch ein Jahr danach noch
wie eine Wahnsinnstat: Schwer vorstellbar und schwer erträglich. Das Entsetzen darüber hatte Deutschland und die Schweiz im letzten Sommer während Tagen aufgewühlt. Hunderte Frankfurter zeigten ihre Anteilnahme und ihr Mitgefühl für die Opfer, indem sie beteten, Blumen, Lichter, Briefe und Stofftiere auf den Bahnsteig legten.

Andere liessen ihre Wut auf den Täter sprechen und verknüpften sie mit der Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung: «Schützt endlich die Bürger unseres Landes», schrieb die Fraktionschefin der AfD im Bundestag, Alice Weidel, auf Twitter, «statt der grenzenlosen Willkommenskultur.»
«Nicht schuldfähig» – in Psychiatrie verbracht
Schon kurz nach der Tat verdichteten sich die Hinweise, dass der Täter nicht aus politischen oder kriminellen Motiven gehandelt hatte, sondern im Wahn. Nach einem Monat wurde er vom Untersuchungsgefängnis in die Psychiatrie verlegt, Ende letzten Jahres beantragte die Staatsanwaltschaft beim Gericht die dauerhafte Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt.
Ein Gutachten habe ergeben, dass Habte A. zum Zeitpunkt der Tat an einer schweren psychischen Erkrankung gelitten habe und nicht schuldfähig sei, so die Staatsanwaltschaft. Die Rede war von einer paranoiden Schizophrenie. Der mutmassliche Täter habe getötet, «ohne ein Mörder zu sein», schrieb die Staatsanwaltschaft ans Gericht. Allerdings halte man ihn weiterhin für gefährlich.
Wenn diesen Mittwoch am Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen Habte A. beginnt, gilt dieser deswegen nicht als Angeklagter, sondern als Beschuldigter in einem sogenannten Sicherungsverfahren. Man wirft ihm Totschlag, versuchten Totschlag und Körperverletzung vor. Das Urteil könnte bereits am 28. August fallen.
Warnsignale vor der Tat
Der Eritreer, verheiratet, drei Kinder, lebte seit 2006 in der Schweiz und wohnte in Wädenswil. Er arbeitete als Schlosser, zuletzt bei den Zürcher Verkehrsbetrieben. Die Akten belegen, dass er vor der Tat bereits ein Jahr lang in psychiatrischer Behandlung war. Im letzten halben Jahr vor der Tat war er krankgeschrieben. Er habe sich zunehmend verfolgt gefühlt, erzählten Bekannte, von Stimmen und Strahlen bedrängt. Vier Tage vor der Tat hatte A. eine Nachbarin mit einem Messer bedroht und seine Familie in der Wohnung eingeschlossen. Danach verschwand er. Die Polizei suchte per Haftbefehl nach ihm – allerdings nur in der Schweiz. Es gehe zu weit, meinten danach Experten, nach jedem Fall von häuslicher Gewalt gleich einen internationalen Haftbefehl auszustellen.
Flüchtling galt als vorbildlich
Nachbarin und Familie wurden von der plötzlichen Gewalttätigkeit des Mannes überrascht. Auch bei Arbeitskollegen und Bekannten hatte er zuvor als ruhig, zuverlässig und fleissig gegolten. Eine Zeitschrift beschrieb ihn 2017 als Musterbeispiel der Integration. Experten, die mit eritreischen Flüchtlingen arbeiten, berichteten, dass viele traumatisiert seien und psychische Probleme hätten.
Die Familie des getöteten Buben aus dem Hochtaunus leide bis heute unter der Tat und werde psychologisch betreut, teilte deren Anwalt mit. Ein Spendenaufruf eines Augenzeugen hatte innert einer Woche mehr als 100’000 Euro zugunsten der Familie erbracht.
Sind Bahnhöfe jetzt sicherer?
Nach der Tat war die Frage aufgekommen, wie man Wartende an Bahnhöfen künftig besser vor solchen Attacken schützen könne. Viel passiert ist seither trotz mancher Ankündigung nicht: Im Frankfurter Bahnhof patrouilliert seither mehr Polizei, über 200 neue, hochmoderne Kameras wurden montiert. Bauliche Massnahmen, Bahnsteigtüren etwa, wie es sie in Asien, Paris, Mailand oder Sankt Petersburg gibt, wurden als zu teuer verworfen.
Am sichersten, sagte der Chef der deutschen Pro Bahn, Karl-Peter Naumann, gerade der ARD, sei eigentlich, sich nicht direkt an der Perronkante aufzuhalten. «Wenn einen dann jemand schubst, ist es besser, wenn man auf den Bahnsteig fällt als vor den Zug.» An Gleis 7 soll bald eine Gedenktafel an den schrecklichen Tag
vor einem Jahr erinnern.
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