Impffieber in BrasilienHohes Impftempo – trotz Bolsonaro
In Brasilien herrscht eine grosse Impfbereitschaft. Über die grosse Aufholjagd eines Landes, das vor gar nicht langer Zeit noch im Corona-Chaos versank.

Noch ist zwar erst ein Viertel der Menschen in Brasilien voll immunisiert, und das wiederum ist nicht viel im internationalen Vergleich: In den USA, zum Beispiel, sind es doppelt so viele Menschen, in Deutschland und Grossbritannien immerhin etwa 60 Prozent und in Israel sogar fast zwei Drittel. In der Schweiz sind 50,4 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft,
Sieht man sich aber die Zahl der Erstimpfungen an, ändert sich das Bild. Obwohl Brasilien erst Mitte Januar anfing, seine Bevölkerung zu impfen, haben heute fast 60 Prozent der Brasilianer zumindest eine Spritze gegen das Coronavirus erhalten. Und das wiederum ist nicht weit entfernt von Ländern wie eben Israel oder den USA, die schon viel früher mit ihren Kampagnen begonnen hatten. In der Schweiz sind es rund 56 Prozent.
In Brasilien gibt es ein wahres Impffieber, die Schlangen vor den Gesundheitszentren sind lang. Und wenn es an etwas mangelt, dann ganz bestimmt nicht an Motivation, sondern höchstens an noch mehr Dosen.
Wie gross die Impfbereitschaft ist, zeigt São Paulo, Brasiliens bevölkerungsreichster Bundesstaat mit über 46 Millionen Einwohnern. Über 92 Prozent der Erwachsenen haben sich hier schon mit zumindest einer Dosis immunisieren lassen, in der gleichnamigen Millionenmetropole sind es sogar sagenhafte 99 Prozent. 94 Prozent aller Brasilianer sagen, sie wollten sich impfen lassen oder hätten es bereits getan.
So viel Wille zum Impfen ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es in Brasilien keine Impfpflicht gibt, dafür aber einen Präsidenten, der seit Beginn der Pandemie die Gefahren durch Covid-19 stets kleingeredet hat. Covid-19 sei kaum mehr als eine «Grippchen», sagte Jair Bolsonaro. Gleichzeitig warnte er vor den Risiken des Impfens: «Sollte sich jemand nach einer Spritze in ein Krokodil verwandeln, ist das nicht meine Schuld.»
Statt sich frühzeitig um Vakzine zu kümmern, hat die Bolsonaro-Regierung viel Geld in Medikamente wie Chloroquin gesteckt, deren Nutzen gegen Covid-19 höchst umstritten ist. Influencer sollen Geld bekommen haben, um die Mittel zu bewerben. Gleichzeitig waren selbst hohe Politiker in Fake-News-Kampagnen um Impfungen und das Virus verstrickt. Als im letzten Herbst Pharmafirmen ganz konkrete Angebote machten, reagierte die Regierung nicht. Deswegen hat das Parlament mittlerweile eine Untersuchung eingeleitet.
Präsident Bolsonaro jedenfalls scheint es ernst gemeint zu haben, als er im Januar sagte, er glaube, höchstens die Hälfte der Bevölkerung wolle sich impfen lassen. Wie sehr er sich damit irrte, zeigen nicht zuletzt die Impfquoten aus eigentlich Bolsonaro-treuen Bundesstaaten wie Paraná, Mato Grosso do Sul oder Rio Grande do Sul, wo ebenfalls zwischen 80 und 90 Prozent der Erwachsenen schon mindestens einmal gespritzt wurden.
Über eine halbe Million Corona-Tote
Eine Erklärung für die Impfbereitschaft der Brasilianer könnte in den Ausmassen liegen, die die Pandemie in dem Land erreicht hat. Bisher gab es über eine halbe Million Corona-Tote. Angesichts der landesweiten Tragödie haben viele Brasilianer kaum Zweifel am Nutzen einer Impfung. Dazu kommt, dass grosse Immunisierungskampagnen in Brasilien seit Jahrzehnten zum Alltag gehören.
Das Land verfügt über eines der grössten öffentlichen Gesundheitssysteme der Welt und seit knapp 50 Jahren über ein öffentliches Impfprogramm. Es betreibt Gesundheitsstationen im ganzen Land, und notfalls tuckern Mitarbeiter mit dem Boot bis weit hinein in den Amazonas, um den Menschen eine der mehr als zweieinhalb Dutzend Spritzen zu verpassen, die der brasilianische Impfkalender vorsieht.
Sogar ein Impfmaskottchen gibt es, Zé Gotinha, eine Comicfigur in Tropfenform, die landesweit bekannt und beliebt ist. Als Zé Gotinha Anfang des Jahres auf einmal bei öffentlichen Auftritten fehlte, kam es zu einem Aufschrei, und Tausende fragten besorgt: Wo ist Zé Gotinha?
Mittlerweile ist das Maskottchen wieder da, dafür wird es um den Präsidenten immer stiller. (Lesen Sie auch den Artikel «50 Prozent der Brasilianer sind mit Bolsonaro unzufrieden».) Ab und an stänkert Bolsonaro noch gegen die Impfungen, aber längst nicht mehr so wie noch vor ein paar Monaten. Der Vizepräsident hat schon eine Spritze bekommen – und sogar einer von Bolsonaros Söhnen. Es fehlt nur noch der Präsident selbst.
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