«Ich denke jeden Tag daran»
Der frühere Premier David Cameron erklärt, warum die Brexit-Abstimmung «unvermeidlich» gewesen sei. Und er übt Kritik an Boris Johnson.

Dreieinhalb Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Amt hat sich der frühere britische Premierminister David Cameron erstmals ausführlich zum Brexit und seiner eigenen Rolle darin geäussert. In einem langen Interview mit der britischen Times erhob der konservative Politiker aber vor allem schwere Vorwürfe gegen Amtsinhaber Boris Johnson. Dieser habe die Kampagne für den Austritt des Landes aus der EU zunächst nicht aus wirklicher Überzeugung unterstützt, sondern allein um seine Karriere zu befördern. «Der Brexit hat keine Chance», habe Johnson ihm gesagt, als er ins Lager der Leave-Kampagne wechselte. «Boris dachte, er werde verlieren.»
In dem Interview gesteht Cameron, dass der Brexit ihn «depressiv» mache. «Ich denke jeden Tag daran. Jeden Tag denke ich daran, an das Referendum und dass wir es verloren haben und an das, was wir anders hätten machen können, und ich mache mir grösste Sorgen über das, was kommen wird.» Eine zweite Abstimmung hält Cameron für möglich: «Ich glaube, man kann es nicht ausschliessen, weil wir in der Klemme sitzen.»
Einen Brexit ohne Abkommen mit der EU, wie ihn Boris Johnson erwägt, hält Cameron für «keine gute Idee». Er unterstütze auch weder die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments noch den Fraktions-Rauswurf von 21 Tory-Abgeordneten, die gegen die Regierung gestimmt hatten. Beides sei «nach hinten losgegangen», sagte Cameron.
Das Gespräch ist Teil einer Medienkampagne, um Camerons 752 Seiten umfassendes Memoiren-Buch «For the record» zu bewerben, das kommende Woche erscheinen wird. Für das Werk, das 752 Seiten umfasst, soll er britischen Medien zufolge einen Vorschuss von 800'000 Pfund erhalten haben. An dem Buch hat er drei Jahre geschrieben. Cameron war Premierminister von 2010 bis 2016. 2013 beschloss er, die Bürger über den Ausstieg aus der EU abstimmen zu lassen, den er ablehnte. Nach dem knappen Sieg der Brexit-Befürworter trat er 2016 zurück und wurde von Theresa May abgelöst.
In dem Buch versucht Cameron nach eigenen Angaben zu erklären, warum die Entscheidung, das Referendum abzuhalten, «unvermeidlich» gewesen sei. Er habe unter politischem Druck gestanden. «Das Thema musste angesprochen werden, und ich hatte das Gefühl, dass eine Abstimmung kommen werde», sagte er der Times. Es habe eine Reihe von EU-Vertragsänderungen gegeben, «aber das Thema wollte nicht weggehen». Deshalb sei es besser gewesen, in der EU vorher noch einige «nötige» Reformen durchzusetzen. «Aber ich sehe ein, dass der Versuch gescheitert ist. Ich verstehe, dass einige Menschen sehr verärgert sind, weil sie die EU nicht verlassen wollten. Ich wollte es auch nicht.»
Cameron stand damals tatsächlich unter politischem Druck, der allerdings überwiegend aus seiner eigenen Partei kam, in der die EU-Gegner immer stärker wurden. Mit dem Referendum wollte der angeschlagene Premier und Parteiführer seine Position bei den Tories stärken.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch