«Ich will kein Präsident für die VIP-Loge sein»
Warum Sebastian Coe schockiert war, als er den Leichtathletik-Weltverband übernahm, und weshalb der Brite seine direkten Mitarbeiter für intelligenter als sich hält.
Ein bisschen verknittert wirkt Sebastian Coe beim Interview. Das Haar führt ein Eigenleben, die Hemdknöpfe sind teilweise offen, die Augen ein wenig verquollen. Es sind Spuren eines Lebens, das von ständigem Reisen geprägt ist. Beim Interview mit der SonntagsZeitung bringt ihm seine Frau – «ich kenne meine Position», sagt sie halbironisch – ein Müesli und Früchte an den Tisch, damit er den Zmorge während des Gesprächs einnehmen kann. 61-jährig ist Lord Coe und seit August 2015 der starke Mann der Weltleichtathletik.
Als Präsident sind Sie Weltreisender in Sachen Leichtathletik. Wie viele Meilen haben Sie diesen Sommer eingeflogen?
Seit dem 22. Juli bin ich ständig unterwegs, war in Tampere an der Junioren-WM, in Buenos Aires an Council-Meetings, in Asaba an den Afrika-Meisterschaften, in Berlin an der EM, in Toronto an den Amerika- und Karibik-Meisterschaften der Leichtathleten, weiter gings nach Australien an Council-Meetings, nach Jakarta an die Asienmeisterschaften. Nun der Diamond-League-Final in Zürich und Brüssel.
Wissen Sie da immer, wo Sie sich gerade befinden?
Nein, manchmal muss ich am Morgen den Vorhang im Zimmer öffnen und rausschauen, damit ich wieder weiss, wo ich bin.
Versüssen die Fünfsternhotels das Reisen ein wenig?
Wir sind kein reicher Sport, ich muss Ihr Klischee widerlegen. Da waren viele Hotels ohne fünf Sterne dabei.
Reisten Sie schon als Vizepräsident so oft?
Nein. Aber ich bin ein Präsident, der präsent sein will – nicht nur an Prestige-Events in der VIP-Loge. Ich will zugänglich und für jeden erreichbar sein, also muss ich zu den Leuten. Ich kann nicht erwarten, dass alle zu mir kommen. Für viele Verbände ist das Reisen teuer. Die können nicht einfach mal schnell nach Monaco an unseren Hauptsitz kommen. Darum gehe ich zu ihnen und höre zu, was sie mir zu sagen haben. Ich habe, vermutlich als erster Weltpräsident unseres Sports, jede Kontinentalmeisterschaft im Jahr besucht - und dann auch die Council-Meetings dieser Mitgliederverbände.
«Manchmal muss ich den Vorhang im Zimmer öffnen, damit ich weiss, wo ich bin»
Was haben Ihnen die Funktionäre erzählt?
Sie spüren, dass wir hart daran arbeiten, die Leichtathletik neu aufzustellen, uns also wirklich Mühe geben. Das macht sie zuversichtlich. Wir haben schliesslich harte Entscheide getroffen.
An welche denken Sie?
Wir haben unsere Verfassung komplett überholt und 200 Änderungen vorgenommen. Wir haben eine unabhängige Integritätskommission gegründet, die sich um alle Fragen von Doping, Korruption oder Wettbetrug kümmert. Unabhängig ist sie, weil mir mein Instinkt sagt: Oft ist das ganze System vom Dopingbetrug befallen, also muss es in seiner Gänze ausgeschaltet werden. Das geht nur, indem man eine solche Einheit vom Verband trennt, wie es nun bei uns der Fall ist. Ich kann darum mit bestem Gewissen sagen: Ich weiss nicht mehr als alle anderen ausserhalb der Einheit. Das ist gut so. Russland beziehungsweise das breite Dopen im Land hat uns natürlich auch stark beschäftigt - tut es weiterhin. Als Präsident möchte ich eigentlich kein Mitglied ausschliessen. Darum ist der jetzige Zustand, also die Suspendierung, für mich kein befriedigender und keiner auf Dauer. Bloss haben die Russen bislang nicht alle Auflagen erfüllt.
Welches war die grösste Herausforderung für Sie seit Arbeitsbeginn?
Dass unsere Reformen von unseren Mitgliedern verstanden werden. Ich fragte mich darum: Anhand welcher Grundlagen entscheide ich, und wie mache ich die Entscheide transparent - damit die Verbände auch wissen, was sie zu tun haben und woran sie gemessen werden? Ich fragte mich auch: Wen will ich in unserem Sport arbeiten sehen? Erst dann kommt die grosse Frage: Wie bleibt die Leichtathletik für kommende Generationen interessant? Allem voran musste ich aber das schlingernde Schiff auf Kurs bringen, bevor ich diese Debatte führen konnte.
War der Weltverband in einem derart desaströsen Zustand?
Ich war schockiert: Es existierten nicht einmal Jobbeschreibungen oder Vertragsbedingungen. Es gab kein wirkliches HR oder eine entsprechende Finanzabteilung. Ich musste erst die Basics aufbauen.
Das klingt grotesk.
So war es aber. Freunde von mir aus der Geschäftswelt lachten, als ich ihnen davon erzählte, weil es für sie so unglaublich klang. Aber der Sport wird nun einmal oft nicht wie eine Firma geführt. Als ich erstmals zum Team redete und den Mitarbeitenden erzählte, was ich will und was ich mir von ihnen wünsche, waren sie überrascht. Nie zuvor hatte ein Präsident vor ihnen allen gesprochen - oft war er im Hauptsitz gar nicht anwesend. Ich versuche wenigstens alle zwei Wochen vor Ort zu sein. Denn gute Führung ist sichtbare Führung - nicht nur an den grossen Events. Darum telefoniere ich auch täglich mit meinen engsten Mitarbeitern. Ich will präsent sein und bin es. Darüber hinaus zirkuliert meine Handynummer breit. Man muss bei mir nicht weit im Voraus einen Termin abmachen. Man kann mich ganz einfach anrufen oder mir eine SMS schicken. Ich will Offenheit.
«Führen ist nicht so schwierig. Finde die hellsten Köpfe und vertraue ihnen»
Sebastian Coe als einsamer Retter?
Im Gegenteil, unsere Organisation kann nur top sein, wenn meine Mitarbeiter top sind. Schauen Sie, führen ist nicht so schwierig. Finde die hellsten Köpfe, die im Idealfall smarter sind als du, vertraue ihnen, und entlasse die Bremser. So habe ich immer gedacht und geführt. Ich kümmere mich um die Verbände, bin das Gesicht nach aussen. Damit halte ich meinen Leuten den Rücken frei, damit sie sich auf das konzentrieren können, was für sie wesentlich ist.
War es nach all den Krisen und Problemen schwierig, fähige Leute zu finden?
Nein. Und leiten Sie aus meinen bisherigen Aussagen jetzt nicht ab, im Verband hätten vor meiner Zeit keine kompetenten Leute gearbeitet. Aber sie wurden nicht geführt. Es existierte schlicht kein Management. Man sagte mir: «Vor deinem Antritt fehlten Mitarbeiter bei Sitzungen, wenn ihnen nicht danach war.» Diese Kultur habe ich sofort abgestellt. Denn eines müssen sich unsere Mitarbeiter immer bewusst sein: Dem Sport zu dienen, ist ein Privileg. Entsprechend sind viele Menschen daran interessiert.
Sie haben viel von Veränderungen innerhalb Ihres Verbandes gesprochen. Dem Fan nützen alle diese Dinge erst einmal wenig.
Das stimmt. Aber wir mussten zuerst unsere dringendsten Probleme lösen und uns so aufstellen, dass wir die Zukunft gestalten können. Denn wir waren in einer wirklich heiklen Situation, gerieten von unseren Sponsoren unter Druck, auch von anderen Sportarten. In dieser Situation gab es keine Abkürzung. Entweder reformierst du dich - oder du wirst reformiert. Also sorge dafür, dass du selber bestimmen kannst.
Was kann der Fan von Ihnen und Ihrer Crew bald erwarten?
Ich muss diesbezüglich leider schwammig bleiben, weil wir erst in einer sehr intensiven Phase des Debattierens sind. Klar scheint mir: Wir müssen als Sport mutig und allenfalls auch bereit sein, Teile unserer Tradition aufzugeben. Was ich nicht will: dass sich die Leichtathletik an irgendwelche Trends anbiedert. Wir brauchen uns nicht zu verkaufen, aber wir müssen frisch bleiben, damit wir künftige Generationen erreichen. Unser Social-Media-Verantwortlicher ist beispielsweise ein 22-Jähriger direkt von der Uni. Verstehe ich immer, was er will? Nein, natürlich nicht. (lacht) Aber das ist okay.
Ist der durchschnittliche Fan im Stadion nicht eher 55 und weniger Social-Media-affin?
An der EM in Berlin waren viele Familien und Jugendliche. Was richtig ist: Unser Durchschnittsfan altert, ist nicht mehr der jüngste. Diesen Trend müssen wir brechen. Auch darum müssen unsere Änderungen mutig sein und den Vorstellungen der Jugendlichen entsprechen. Ist also eine WM, die sich über 10 Tage erstreckt, noch sinnvoll? Müssen wir mehr Wettkämpfe einführen, in denen Männer und Frauen gemeinsam starten? Umfragen zeigen uns, dass selbst unsere Fans oft nicht verstehen, warum wann welcher Event ansteht. Wir müssen folglich noch viel besser erklären, was wir warum tun. Sie sehen: Es liegt viel Arbeit vor uns. Aber die Leichtathletik mit all ihren Disziplinen ist nun einmal komplizierter zu erklären als der Fussball oder das Tennis, wo alles auf einem Feld beziehungsweise Platz abläuft.
Ist es sinnvoll, alle Disziplinen weiter gleich stark zu fördern? Der 100-m-Sprint sorgt nun einmal für mehr Publikum als das Kugelstossen?
Falsch wäre einzig, wenn wir diese Debatte nicht führen würden.
Was sagt Ihr Instinkt?
Er wird von unseren Marktumfragen geleitet. 70 Prozent unserer Verbände wollen grosse Änderungen - ohne gleich unser Erbe zu zerstören. Sehen Sie: Als ich Ende der 1960er-Jahre meine ersten Rennen absolvierte, waren die Meetings ähnlich organisiert wie heute. Hätte man also jemanden aus jener Zeit in die heutige gebeamt, würde er keine riesigen Unterschiede in der Leichtathletik feststellen. Er erlebte neu Feuerwerk, Musik an den Meetings, mehr Geprahle der Athleten. Im grossen Ganzen aber ist vieles gleich geblieben. Nur: Wir können nicht einfach ein bisschen reformieren. Diesen Luxus habe ich als Präsident nicht. Ich muss alle zusammenbringen, also Athleten, Sponsoren, Verbände oder TV-Anstalten und an einem Gesamtkonzept arbeiten. Natürlich ist der Fan der Endverbraucher. Aber ihm schnell mittels ein, zwei Änderungen zeigen, dass wir an ihn denken, reicht nicht. Es braucht den Wurf und damit zuerst das Nachdenken.
Was wäre ein solches Zückerchen für den Fan?
Zurzeit starten viele Athleten und Athletinnen im exakt gleichen Dress. Darum kann sie oft nicht einmal der Fan auseinanderhalten. Natürlich wäre es sinnvoll, diese geballte Einheit aufzulösen. Wir als Verband aber können doch den Ausrüstern nicht einfach befehlen, dass sie jeden Athleten anders einkleiden sollen. Wir sind auf sie angewiesen. Also müssen wir eine partnerschaftliche Lösung finden. Doch jede Gruppe denkt nur an ihr Gebiet.
Entscheiden Sie letztlich?
Ich kann nicht von oben herab befehlen. Diese Management-Technik funktionierte vor 50 Jahren, aber nicht mehr heute. Ich erwähnte zu Beginn unseres Gesprächs die 200Regeländerungen, die wir vorgenommen haben. Glauben Sie, ich hätte diese durchgebracht, wenn ich nur in Monaco in unserer Basis gesessen und Befehle durchgegeben hätte? Natürlich nicht. Ich musste unterwegs sein und unsere Absichten den Mitgliederverbänden erklären. Ich hätte wegen der neuen Regeln ohnehin nicht mehr so eigenständig handeln können wie meine Vorgänger - was ich begrüsse, verstehen Sie mich bitte nicht falsch.
Was sind die nächsten Schritte in der Russen-Causa?
Zurzeit ist das Moskauer Kontrolllabor von der Welt-Anti-Doping-Agentur noch suspendiert. Den russischen Leichtathletik-Verband wieder zu integrieren, ist ohne ein funktionierendes nationales Kontrolllabor deshalb sehr schwierig.
Den wohl fundamentalsten Punkt wollen die Russen noch immer nicht erfüllen: eingestehen, dass sie systematisch dopten.
Das stimmt. Wir wollen eine kulturelle Änderung in ihrer Denkweise erreichen, also eine neue Generation auch an Trainern aufbauen, die wirklich glaubt, aus Jugendlichen auf ehrliche Weise Topathleten formen zu können. Wobei dieses Ansinnen keineswegs nur für russische Coachs gilt. Zugleich muss man sich eingestehen: Wir als Verband können helfen, diesen kulturellen Wandel hinzubekommen, und ja, wir können bestimmte Dinge vorgeben. Den Wandel hinbefehlen können wir aber nicht.
Wir sprachen zu Beginn von Ihren Reisen und möchten auch damit aufhören. Was beeindruckte Sie dabei am meisten?
Die Junioren-WM in Tampere.
Das müssen Sie jetzt sagen, die Jungen, lachende Gesichter . . .
. . . nein, nein. Wenn man schauen will, wie vital eine Sportart ist, muss man die Youngsters betrachten und sehen, was nachkommt. Und ich kann ihnen sagen: Da kommt einiges! Jakob Ingebrigtsen beispielsweise, oder Armand Duplantis. Wir als Verband müssen ihnen helfen, dass sie ihre Geschichte entsprechend erzählen können. Sie sind unsere besten Botschafter - und diese Rolle sollen sie auf und neben dem Platz einnehmen. Ich will also keine Athleten, die einfach ein paar auswendig gelernte Sätze von sich geben. Ich will Persönlichkeiten mit Meinungen, die sie äussern. Dies müssen auch ihre Agenten lernen und sie nicht überkontrollieren.
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