Flucht der weissrussischen SprinterinIhre Grossmutter warnte sie in letzter Minute
Olympia-Sprinterin Kristina Timanowskaja erzählt über ihre Flucht, ihre neue Heimat Polen und dass sie sich um ihre Verwandten sorgt.

Es war der Anruf ihrer Grossmutter, der Kristina Timanowskaja zur Flucht bewegte. Die Sprinterin sass schon im Auto zum Flughafen, wollte sich den Funktionären der weissrussischen Delegation in Tokio beugen. Diese hatten sie gegen ihren Willen von ihren olympischen Rennen abgemeldet und sie am Sonntag angehalten, ihre Sachen zu packen.
Das Gespräch während der Fahrt war kurz, ein paar Sekunden: «Komm nicht zurück», sagte die Grossmutter, in Weissrussland behaupte man im Staatsfernsehen schlimme Dinge über die Enkelin. Als sie am Flughafen ankam, tippte Timanowskaja «ich brauche Hilfe» in ihre Übersetzungs-App. Dann zeigte sie ihr Handy einem japanischen Polizisten.
Polen stellte der Sprinterin schon am nächsten Tag ein humanitäres Visum aus, am Mittwochabend landete sie in Warschau. Kristina Timanowskaja ist in Sicherheit. «Darüber bin ich froh», sagt sie dort auf einer Pressekonferenz, richtig erleichtert wirkt sie nicht. Fast regelungslos hört sie sich die Fragen der Journalisten an: Wie lange möchte sie in Polen bleiben? Das werde sie mit ihrem Mann entscheiden. Der fährt gerade im Auto aus der Ukraine Richtung Warschau, auch er ist geflohen.
Sie sorgt sich um ihre Verwandten
Warum hat sie Polen ausgesucht? Weil ihre Eltern sie dort von Weissrussland aus besuchen können. Und ja, natürlich macht sie sich Sorgen um ihre Verwandten zu Hause. Ihr Vater habe ein krankes Herz. Die Grossmutter hatte im Staatsfernsehen gehört, ihre Enkelin sei mental nicht gesund, sie habe ihre Olympia-Teilnahme aus «emotional-psychologischen» Gründen abgesagt. Eine Angst war: Wenn Kristina Timanowskaja in Minsk landet, würde man sie gar nicht erst nach Hause gehen lassen, würde sie womöglich einweisen.
Noch im olympischen Dorf hatte der Cheftrainer die weissrussische Leichtathletin Timanowskaja unter Druck gesetzt, später tauchte eine Aufnahme dieser Unterredung in russischen Medien auf. Sie solle ihren Stolz vergessen, sagt der Sportfunktionär. Zu dem Zeitpunkt wollte er sie noch dazu drängen, selbst von ihren Wettkämpfen zurückzutreten. Ihr Stolz werde sie noch in einen «Teufelskreis» ziehen, fügte er an, und «das ist leider, wie Selbstmordfälle enden». Eine Drohung?
Als man sie in Warschau danach fragt, will Timanowskaja nicht antworten und gibt die Frage an Pawel Latuschko weiter, der neben ihr sitzt. Latuschko, früher Kulturminister und Diplomat, ist heute einer der bekanntesten weissrussischen Oppositionellen im Exil. Er spricht über die wachsenden Repressionen in seiner Heimat und darüber, dass schon mehrere Aktivisten und Oppositionelle unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen seien.
«Das war ein inszenierter Suizid. Wir wissen aber, dass es Mord war.»
Allein in dieser Woche fand man den Aktivisten Witalij Schischow, der in die Ukraine geflohen war, tot in Kiew auf, erhängt in einem Park. «Das war ein inszenierter Suizid», sagt Latuschko. «Wir wissen aber, dass es Mord war.» Sicher bewiesen ist das nicht, die ukrainische Polizei ermittelt aber wegen Mordes.
Timanowskaja sitzt in Warschau neben dem Oppositionellen. Sie selbst hat bisher immer vermieden, sich öffentlich politisch zu äussern. In ihrer Kritik in Tokio ging es um die 4x-400-Meter-Staffel. Timanowskaja sollte antreten, ohne dafür trainiert zu haben. Ohne dass man sie überhaupt gefragt hätte. «Ich bin ein wenig überrascht», sagt sie in Warschau, «dass diese ganze Situation zu einem solchen politischen Skandal geworden ist.» Es sei dabei doch nur um den Sport gegangen. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass so etwas passiert.
Wie es ihr geht? «Ich bin sehr emotional und nervös in diesen Tagen, aber ich hoffe, dass bessere Tage kommen.» Sie hat in Tokio ja nicht nur ihre Heimat verloren, auch ihr olympischer Traum ist geplatzt. Mit Sportfragen, das merkt man ihr an, fühlt sie sich wohler: Ihren bisherigen Trainer möchte sie behalten, sagt sie, einen Österreicher. Und sie hoffe, dass sie ihre sportliche Karriere in Polen fortsetzen könne.

Dabei schaut sie wieder zu Latuschko. Der erklärt, dass für diesen Freitag ein Treffen mit dem polnischen Minister für Sport und Kultur geplant sei. Latuschko betont: Der Minister werde nur seine Hilfe anbieten, alles andere müsse Timanowskaja selbst entscheiden. Die 24-Jährige, das wird klar, möchte einfach nur laufen. Am Ende der Pressekonferenz hält sie sogar ein T-Shirt hoch, auf dem steht: «I just want to run».
Es macht Werbung für einen Spendenmarathon, den die weissrussische Sport-Solidaritäts-Stiftung (BSSF) im August organisiert. Möchte sie laufen oder weglaufen, fragt dann einer noch blöd. Dabei ist die Antwort klar: Timanowskaja möchte bei Wettkämpfen starten. Sie hofft, dass sie noch einmal die Chance hat, bei Olympia anzutreten.
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