Proteste in RusslandIm Fernen Osten brodelt es bedrohlich
In der russischen Region Chabarowsk protestieren Zehntausende gegen die Festnahme des Gouverneurs – doch der Groll richtet sich zunehmend gegen Wladimir Putin.

Eine Landstrasse in Russlands Fernem Osten, Michail Degtjarew war dort am Sonntag unterwegs, als er an einer Autokolonne vorbeifuhr und anhalten liess. Degtjarew ist vor ein paar Tagen von Präsident Wladimir Putin übergangsweise zum Gouverneur von Chabarowsk eingesetzt worden, und nun suchte er erstmals den Dialog mit den Menschen. Im blauen Anzug, ohne Krawatte, aber mit Schutzmaske stand er da und sagte, dass er die Menschen verstehe, aber dass es ohne ihn im Moment ja wohl auch nicht gehe.
Er wolle ihnen zuhören, sie sollten ihm zuhören, «aber wie soll Chabarowsk denn ohne eine Führung sein?», fragte er, jetzt, da nach den Ferien das neue Schuljahr bevorstehe und die Winterperiode demnächst auch. Aber Degtjarew wurde von den Umstehenden selber mit Fragen überschüttet: «Wer bezahlt für die Schulbücher? Warum ist das Heizöl so teuer?» Und: «Warum verstecken Sie sich vor den Menschen? Gestern sind so viele Leute gekommen, die wollen, dass Ihnen geholfen wird. Aber Sie sind davon gelaufen.» So hitzig geht es gerade zu in Russlands Krisenregion. Es hat sich eine Menge aufgestaut.
Zum dritten Mal in Folge hat es am Wochenende Massenproteste in Chabarowsk gegeben, der Hauptstadt der gleichnamigen Verwaltungsregion. Die Stadtverwaltung sprach von etwa 6500 Menschen, aber die Bilder von dem langen Protestzug, der sich am Samstag durch die Strassen zog, lassen eher mehrere Zehntausend vermuten. Auch am Sonntag versammelten sich Tausende Menschen. Es gilt als die heftigste Protestbewegung in der Region, die an der Grenze zu China liegt, Tausende Kilometer von Moskau entfernt.
Für den Kreml ist die Lage knifflig
Anlass für die Demonstrationen ist die Festnahme des Gouverneurs Sergei Furgal, der vor zwei Wochen wegen Mordverdachts nach Moskau in Untersuchungshaft gebracht wurde. Die russischen Behörden werfen dem ehemaligen Unternehmer vor, dass er vor 15 Jahren mehrere Morde an Geschäftsleuten in Auftrag gegeben habe. Furgal bestreitet die Vorwürfe. Seine Anhänger vermuten, dass die Anschuldigungen politisch motiviert sind.
Der Gouverneur war seit 2018 im Amt gewesen. Damals setzte er sich bei der Wahl für die nationalistische Liberaldemokratische Partei LDPR überraschend mit etwa 70 Prozent der Stimmen gegen einen Kandidaten der russischen Regierungspartei durch und wurde als Gouverneur schnell beliebt. Dass der Kreml wegen «verlorenen Vertrauens» in Furgal diesen offiziell absetzte und Degtjarew auf dem Posten installierte, der zwar auch der LDPR angehört, den aber zuvor kaum jemand kannte, hat die Wut der Bürger erst recht steigen lassen. Für Moskau ist die Lage deshalb durchaus knifflig.
«Putin, tritt zurück»
Auch an diesem Wochenende konzentrierten sich die Demonstranten zwar auf den festgenommenen Gouverneur, auf die Forderung nach einem fairen Verfahren. «Hände weg von Furgal», hiess es auf Transparenten und Plakaten. Aber es mischte sich mehr als zuletzt auch konkreter Unmut gegen das Moskauer Zentrum und den russischen Präsidenten in den Protest. «Putin, tritt zurück» oder «Putin hat das Vertrauen verloren» hatten Demonstranten auf Plakate geschrieben.

Dies erinnert an die Massenproteste im Winter 2011/2012, die sich zunächst gegen Manipulationen bei der russischen Parlamentswahl gerichtet hatten, dann jedoch auch übergingen in Protest gegen den Kreml und Putin. Und es wirkt wie eine Entfremdung zwischen der Region und der Zentrale im fast acht Flugstunden entfernten Moskau.
Wegen der teuren Flug- und Zugtickets fühlen sich die Menschen aus Chabarowsk vom Rest Russlands isoliert. Den umgerechnet rund 320 Franken teuren achtstündigen Flug nach Moskau können sich nur wenig leisten. Die Kosten für Wohnung und Lebensmittel sind vergleichsweise hoch.
Das Gerede von der «ausländischen Einmischung»
Um die Menschen in der Chabarowsker Region zu besänftigen, versprach Ministerpräsident Michail Mischustin nach den Worten Degtjarews, dass die Fernostregion umgerechnet zusätzlich etwa 16,5 Millionen Franken aus dem staatlichen Haushalt erhalten werde. Der eingesetzte Gouverneur unterstützte am Sonntag auch die Forderung von Demonstranten nach einem transparenten Gerichtsverfahren für den inhaftierten Furgal. «Wenn es unwiderlegbare Beweise gibt, sollten die Menschen sie auch sehen können», sagte er.
Allerdings hatte er nach einem Bericht der Zeitung «Nesawissimaja Gaseta» vor einigen Tagen auch bereits von einer «ausländischen Einmischung in die Lage» gesprochen. Es ist deshalb schwer einzuschätzen, wie die Behörden reagieren, falls die Proteste in den nächsten Sommerwochen nicht abflauen sollten. Bei den Demonstrationen am Wochenende griff die Polizei nicht ein. Festnahmen gab es allerdings bei unterstützenden Aktionen etwa in Moskau.
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