
Bis vor kurzem war Julie Ramirez noch, na ja, nicht ganz oben angekommen, aber immerhin schon auf einem guten Weg. Glaubt man ihren zahlreichen Videotagebüchern auf Tiktok, bestand ihr Arbeitstag als Personalmanagerin bei Google in Seattle hauptsächlich aus Besuchen beim hauseigenen Masseur, in der Biokantine, beim Betriebsspielautomaten und im firmeneigenen Fitnessstudio.
Sogenannte «A Day in the Life»-Videos sind mittlerweile ein eigenes Genre. Schnelle Zusammenschnitte, in denen für die Darstellung der eigentlichen Arbeit nur wenig Zeit bleibt. Der Glamour-Faktor ist wichtiger. Bei einem der Faang-Unternehmen (das Akronym steht für Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google) angestellt zu sein, galt bis vor kurzer Zeit noch als enorm prestigereich und mit zahlreichen Annehmlichkeiten verbunden. Wer sich einen dieser Firmennamen in den Lebenslauf schreiben konnte, war auf der sicheren Seite: Aktienoptionen, bezahlte Wohnungen für die Angestellten und Arbeitszeit für private Projekte.
Nicht wenige Angestellte berichten jubelnd von ihrer «Reise» zu noch mehr Erfolg.
Für die Techfirmen waren die Videos in den vergangenen Jahren, als das Geschäft noch gut lief, eine schöne Gratismassnahme, um noch mehr Personal anzulocken. Grob zusammengerechnet, haben die grossen Konzerne in den vergangenen Wochen und Monaten nun aber ein paar Hunderttausend Leute entlassen. Das stört den Glamour. Grosse Vorwarnungen oder gar persönliche Gespräche mit der Personalabteilung gab es bei den wenigsten, stattdessen behalfen sich die Unternehmen mit automatisierten E-Mails. Die Zugangschips wurden einfach über Nacht abgeschaltet.
Auch Julie Ramirez hat es erwischt. Doch selbst in der Techrezession postet sie weiter. Die Aufnahme und das Hochladen einer Livereaktion auf den Rausschmiss ist mittlerweile beinahe zu einer Standardreaktion auf die Entlassung geworden, irgendwo zwischen dem Versenden der schlechten Nachricht an die Familie und einem tränenerstickten Seufzer. Das Hashtag «techlayoffs» trendet. Und weil wir uns immer noch im Internet befinden, ist die allgemeine Häme natürlich gross. War abzusehen, selbst schuld, willkommen in der Realität!, so lauten die noch harmloseren Kommentare, die man unter den Videos findet.

In die heile Welt, die die Menschen in den sozialen Medien sonst so gerne teilen, passt das natürlich nur bedingt. So gut wie alles wird ohne gross nachzudenken entblösst, nur wenige Tabus sind noch geblieben. Dazu zählt auch: Rückschläge und Niederlagen haben hier eigentlich nichts zu suchen. Da bleibt man lieber stumm und verschwindet für eine Weile aus den Feeds.
Aus der Arbeitslosigkeit wird eine Content-Idee.
Angesichts der Tatsache, dass wir in einer Welt voller geschönter und gefilterter Nachrichten leben, könnte es ein rarer Moment der Authentizität sein, zu sehen, wie normale Menschen mit einem Rausschmiss umgehen. Ist die Offenlegung des eigenen Scheiterns also ein Akt der Selbstermächtigung? Das wäre mal etwas Neues im sozialen Netz: dazu stehen, ratlos zu sein und, ja, auch verzweifelt.
Viel wahrscheinlicher aber ist, dass mit den Entlassungs-Influencern nur eine weitere Schamgrenze fällt auf dem Weg in die Vermarktung des eigenen Lebens. Aus der Arbeitslosigkeit wird eine Content-Idee. Und tatsächlich gibt es nicht wenige Ex-Angestellte, die nun von ihrer «Reise» hin zu noch mehr Erfolg berichten. «Day 34 of (F)Unemployment», heisst es da. Thema des Tages: noch stromlinienförmiger werden, noch demütiger und dankbarer. Die Niederlage ist ein weiterer Anlass für Selbstoptimierung und spielt damit einmal mehr dem Schweinesystem in die Hände.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Kolumne zu den Techlayoffs – Im Silicon Valley reden sie sich die Entlassungen schön
In der Techbranche verlieren gerade Hunderttausende ihre Jobs. Viele von ihnen verklären ihren Rauswurf in den sozialen Medien zur Befreiung.