Einzigartiges AusbildungsprogrammIsraelisches Militär setzt Menschen mit Autismus ein
Die meisten Armeen wollen sie nicht, in Israel aber sind sie Elitesoldaten. Menschen auf dem Spektrum sind ein Gewinn für den Nachrichtendienst – und ihnen bietet die Ausbildung eine berufliche Perspektive.

Er ist Teil einer Eliteeinheit der israelischen Verteidigungskräfte. Jeden Tag sitzt der Soldat acht Stunden am Tag vor mehreren Computerbildschirmen und durchforstet das Internet nach Informationen, die dem Land im Kampf gegen seine Feinde helfen könnten. Allfällige Entdeckungen muss der Elitesoldat blitzschnell einordnen – schliesslich landen sie womöglich auf dem Schreibtisch des israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu.
Was der Elitesoldat macht, ist hochanstrengend, doch wie er zu «Business Insider» sagt, kommt er mit der Arbeit besser zurecht als viele andere. Am produktivsten sei er, wenn er To-do-Listen erhalte. Denn I. ist von Autismus betroffen. Dabei ist er bei weitem nicht der einzige Soldat mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) bei Israels Verteidigungskräften. Rund 150 andere Menschen auf dem Spektrum dienen zurzeit dort. Möglich gemacht hat das «Ro’im Rachok» (hebräisch für «in die Zukunft sehen»), ein 2013 gegründetes, einzigartiges Programm, das Autisten im Militär unterbringt, damit sie dort ihre wertvollen Fähigkeiten einsetzen können.
Es sei eine Win-win-Situation für beide Seiten, sagt Tal Vardi, ein Mossad-Veteran und Mitinitiator des Programms, zu «Business Insider». Während die Menschen mit Autismus an einem Leben teilhaben können, das ihnen sonst verwehrt bliebe, kann das Militär die einzigartigen Fähigkeiten nutzen, die viele Autisten haben: ausgeprägtes visuelles Denken und Detailgenauigkeit – beides Begabungen, die sich für Aufgaben im militärischen Nachrichtendienst eignen. Laut Vardi handelt es sich bei «Ro’im Rachok» keineswegs um einen Akt der Nächstenliebe. «Niemand will bemitleidet werden», so der Mossad-Veteran.
Soldaten mit Autismus lassen sich weniger leicht ablenken
Wie I.s Aufgaben genau aussehen, darf er nach Anweisungen des israelischen Militärs nicht verraten. Auch sein Name unterliegt der Geheimhaltung. Das Programm «Ro’im Rachok» hat bislang mehr als 300 Soldaten mit Autismus in 27 verschiedenen Einheiten für die israelischen Verteidigungskräfte rekrutiert. Die erste, die im Rahmen des Programms Soldaten mit Autismus aufnahm, war die als geheim eingestufte Division 9900 – eine Eliteeinheit für visuelle Intelligenz, auch bekannt als «das Auge des Landes».
Dort analysieren Soldaten mit Autismus in minutiöser Millimeterarbeit komplexe Satellitenbilder und Drohnenaufnahmen, aber auch Bilder von Aufklärungsflügen über Gebieten wie dem Gazastreifen und Syrien – und entdecken aufgrund kleinster Veränderungen Truppenbewegungen und Waffenlager. Wie ein Major zu «Insider» sagt, hat er schnell festgestellt, dass die Soldaten mit Autismus eine Begabung dafür hätten, Luftaufnahmen zu analysieren. Seine neurotypischen Soldaten liessen sich hingegen leicht ablenken.
Beim Studium werden sie von Therapeuten begleitet
In Israel ist der Militärdienst für alle 18-Jährigen obligatorisch, auch für Frauen – Menschen mit Autismus wurden jedoch lange automatisch als untauglich eingestuft. Erst im Jahr 2008 begann das israelische Militär laut «The Atlantic» Menschen mit Autismus von Fall zu Fall zu beurteilen. Rekrutiert wurden sie dabei meist für Sekretariatsaufgaben oder einen Zivildienst im Spital oder in Schulen. Im Rahmen von «Ro’im Rachok» können sie sich nun aber als Freiwillige zum Dienst melden und später womöglich fest angestellt werden.

Zuerst müssen sich Bewerber in einem strengen Auswahlverfahren beweisen, das aus Tests und Gesprächen besteht. Dabei wird etwa geprüft, ob sich die Autisten an die strenge Struktur der Armee anpassen können und ob sie für sich selbst oder für die Einsätze ein Risiko darstellen. Ist diese Hürde überwunden, nehmen die Studenten an einem Ausbildungskurs teil, den die Armee zusammen mit einem College in Kiriat Ono bei Tel Aviv ausrichtet.
Gleichzeitig werden die Studenten von einem Team von Therapeuten begleitet, das ihnen hilft, mit all den neuen Herausforderungen klarzukommen – etwa bei der Frage, mit welchem Bus sie von zu Hause zu ihrem Arbeitsort auf dem Militärstützpunkt gelangen. Nach der abgeschlossenen Ausbildung dürfen sich die Studenten dann entscheiden, ob sie sich endgültig verpflichten wollen. In Israel beträgt die Dienstzeit für Männer drei und für Frauen zwei Jahre. Soldaten mit Autismus dürfen den Dienst jedoch bereits nach einem Jahr quittieren, da sie Freiwilligenarbeit leisten.
In Israel werden Menschen auf dem Spektrum stigmatisiert
Für die Absolventen des Programms ist es aber besonders wertvoll, dass sie ihre gewonnenen Fähigkeiten auch nach ihrer Zeit in der Armee in zivilen Berufen einsetzen können, um unabhängig zu bleiben. Gute Chancen haben sie dabei im boomenden Technologiesektor Israels. Den Sprung in die Arbeitswelt zu schaffen, ist vor allem für junge Menschen mit Autismus wichtig. Denn ab dem Alter von 21 Jahren haben Autisten in Israel laut «The Atlantic» keinen Anspruch mehr auf die meisten staatlich finanzierten Programme. Dazu gehören subventionierte Transportmittel, aber auch betreutes Wohnen.
Und das, obwohl die Autismus-Diagnosen im Land in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zugenommen haben. Zwischen 2004 und 2011 hat sich die Zahl der Israelis mit Autismus verfünffacht. Pro Jahr erhalten rund 1000 Menschen diese Diagnose, wie eine Studie des israelischen Sozialministeriums zeigt. Doch Menschen auf dem Spektrum werden in Israel noch immer stark stigmatisiert, auch in Schulen, wo überforderte Lehrer stärkere Medikamente für betroffene Schüler fordern.
Mit «Ro’im Rachok» wollen die Organisatoren der Gesellschaft nun zeigen, wozu Menschen auf dem Spektrum fähig sind, wenn sie die entsprechende Unterstützung erhalten. Laut Vardi haben bereits militärische Abteilungen aus Grossbritannien, den USA und Singapur Interesse an Israels Modell gezeigt.
In der Schweiz ist das israelische Modell kein Thema
Und wie sieht es in der Schweiz aus? Laut Armeesprecher Stefan Hofer habe man von dem Modell in Israel zwar bereits gehört, bei der Schweizer Armee sei es jedoch kein Thema. Menschen mit der Diagnose Autismus würden aber nicht automatisch untauglich. Das Militär beurteile die Stellungspflichtigen individuell.
«Jede Person, die zur Rekrutierung aufgeboten wird, wird im Rahmen dieser auch medizinisch beurteilt», so Hofer. Auch die vorbestehende Patientengeschichte und die medizinischen Unterlagen würden beim Tauglichkeitsentscheid mit einbezogen. Ebenfalls berücksichtig werde die Integration und Bewährung des betreffenden Stellungspflichtigen im ersten Arbeitsmarkt. «Sind die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, können einige dieser Personen auch Militärdienst unter Auflagen leisten», sagt Hofer. «Dies hängt von den individuellen Umständen ab.»
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