Folgen des Lira-VerfallsJunge Türken machen jetzt Heimarbeit für ausländische Firmen
Die schlechte Wirtschaftslage zwingt junge Talente zu neuen Arbeitsformen. Das verschärft die Lage zusätzlich.

Batikan Erdogan hat Kassensturz gemacht, und das Resultat hat ihm nicht gefallen. Der Absturz der Lira hat sein Einkommen in den vergangenen fünf Jahren massiv geschmälert. Also entschied der 31-Jährige, dass er dringend einen Lohn in ausländischer Währung beziehen muss.
Im Gegensatz zu anderen jungen Türkinnen und Türken verliess Erdogan das Land jedoch nicht, um im Ausland Arbeit zu finden. Stattdessen fand er eine Stelle bei einer US-Internetfirma in der Gründungsphase. Der Produktmanager kann von der Türkei aus arbeiten, verdient aber in US-Dollar.
«Ich wollte meine Familie und meine Freunde nicht verlassen, nur um aus beruflichen Gründen in ein anderes Land zu ziehen», sagt er gegenüber der «Financial Times». «In Dollar zu verdienen und in Lira auszugeben, ist für mich attraktiver, als in Berlin zu leben und in Euro zu konsumieren.»
Neue Form der Talentabwanderung
Erdogan ist ein Beispiel für ein neues Phänomen in der Türkei. Immer mehr gut ausgebildete Türken arbeiten von zu Hause aus für ausländische Firmen aus der Technologie- und Computerbranche. Ausgelöst wurde diese spezielle Form der Talentabwanderung durch die Corona-Krise und die katastrophale Lage der türkischen Wirtschaft.
So hat die türkische Lira seit Anfang 2015 mehr als 80 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Das erodiert die Kaufkraft derjenigen, die in der Landeswährung verdienen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wies die Zentralbank wiederholt an, die Kosten für die Kreditaufnahme trotz steigender Inflation zu senken. Erdogan ist bekannt dafür, ein vehementer Gegner hoher Zinssätze zu sein.
Türkische Informatiker sind billig zu haben, das nutzen die Firmen im Ausland zu ihrem Vorteil. Gemäss Gonul Kamali, Präsidentin des Verbands der türkischen Softwarebranche Yasad, zahlt ein internationales Unternehmen umgerechnet 5200 bis 6300 Franken pro Monat für einen osteuropäischen Softwareingenieur. Für einen türkischen Spezialisten seien es 2600 Franken.
Zum Vergleich: Ein Entwickler mit vier bis neun Jahren Berufserfahrung in einem türkischen Unternehmen verdient im Durchschnitt 15’000 Lira oder umgerechnet 1200 Franken im Monat. «Schlussendlich sind die Softwareentwickler die Gewinner, und darauf bin ich stolz», sagt Kamali gegenüber der «Financial Times». «Aber die türkischen Unternehmen leiden darunter.»
Die Chefökonomin des türkischen Wirtschaftsverbands Tusiad teilt diese Einschätzung. Zwar profitierten junge Arbeitnehmer, da die Arbeitslosigkeit im Land hoch sei. Doch das Nachsehen habe die Realwirtschaft, die keine hoch qualifizierten Arbeitskräfte mehr finde, so Gizem Öztok Altinsac.
Junge Türken zieht es ins Ausland
Nach Ansicht der Oppositionsparteien hat die Türkei in den vergangenen zehn Jahren vor allem deshalb einen Braindrain erlebt, weil das Land unter der Führung von Präsident Erdogan autoritärer geworden sei und unter grossen politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen leide.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MAK und der Yeditepe-Universität in Istanbul unter Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren im vergangenen Jahr gaben 64 Prozent der Befragten an, dass sie die Türkei gern verlassen würden, um dauerhaft im Ausland zu leben. Die Mehrheit nannte den Wunsch nach einer «besseren Zukunft» als Motivation.
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