Tote bei ProtestenKolumbien kommt nicht mehr zur Ruhe
Seit die Regierung eine Steuererhöhung ankündigte, erschüttern Ausschreitungen das Land. Jetzt zog Präsident Duque die Pläne zurück – doch die Proteste gehen weiter.

Schüsse und Schreie hallten auch in der Nacht von Montag auf Dienstag wieder durch die Strassen mehrerer Städte Kolumbiens. Polizisten gingen mit Schlagstöcken, Blendgranaten und Tränengas gegen Demonstranten vor. Teilweise feuerten sie aber auch mit scharfer Munition. So sollen in Cali, der drittgrössten Stadt des Landes, mehrere Menschen durch Schüsse verletzt worden sein, dazu habe es auch mehrere Tote gegeben, sagte eine Sprecherin des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte am Dienstag in Genf: «Wir sind zutiefst schockiert über die Vorkommnisse.»
Seit Mitte letzter Woche wird Kolumbien von grossen Protesten erschüttert. Bisher sind bei ihnen mindestens 19 Menschen ums Leben gekommen, darunter ein Polizist, aber auch ein 17-jähriger Schüler, der von einem Beamten aus kürzester Distanz erschossen wurde, nachdem er diesen mit einem Fusstritt angegriffen hatte. Während der seit Tagen anhaltenden Proteste gab es Hunderte Verletzte, Busse wurden angezündet und Geschäfte geplündert. Mehrere kolumbianische Medien berichten, dass die Generalstaatsanwaltschaft Kolumbiens wegen sieben Todesfällen im Zusammenhang mit den Ausschreitungen ermittelt.
Umstrittene Steuerreform
Auslöser für die Unruhen war zunächst eine umstrittene Steuerreform. Die konservative Regierung wollte mit ihr die Lücken im Staatshaushalt stopfen, die durch die Pandemiebekämpfung entstanden waren. Für Firmen und Unternehmen waren dabei allerdings nur vergleichsweise geringe Mehrausgaben vorgesehen, während Privatpersonen überdurchschnittlich hoch belastet worden wären. Ganz besonders schwer getroffen hätten die Reformpläne die Mittelschicht und ärmere Kolumbianer.
Am Mittwoch vergangener Woche kam es dann zu ersten grossen Demonstrationen, organisiert zunächst vor allem von Gewerkschaften und sozialen Organisationen. Bald aber schlossen sich breite Teile der Bevölkerung an, Zehntausende protestierten in Medellín, Cali, Bogotá und anderen Städten des Landes. Taxi- und Lastwagenfahrer streikten und legten in Autokorsos teilweise den Verkehr lahm.

Nach zunächst scharfer Kritik gegenüber den Protesten nahm Präsident Iván Duque am Wochenende die Pläne für die Steuerreform zurück. Am Montag räumte dann auch noch der für die Pläne verantwortliche Finanzminister Alberto Carrasquilla seinen Posten. Sein Verbleib in der Regierung würde einen «notwendigen Konsens» für einen neuen Reformvorschlag erschweren, sagte der Finanzminister, der seit August 2018 im Amt war. Proteste reissen aber dennoch nicht ab. Für viele Kolumbianer geht es längst um viel grundsätzlichere Probleme.
Schon vor der Pandemie hatte es in dem Land Ende 2019 riesige Proteste gegeben. Sie richteten sich einerseits gegen den nur schleppend vorankommenden Friedensprozess mit den linken Guerillagruppen im Land. Gleichzeitig waren die Demonstrationen aber auch ein Zeichen gegen die wirtschaftsliberale Politik der konservativen Regierung, gegen hohe Arbeitslosigkeit, Armut, ungleiche Bildungschancen und Gewalt durch Polizei und Sicherheitskräfte.
Im Zuge der Proteste kam es auch damals schon zu schweren Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Polizisten, unter ihnen eine Sondereinheit zur Bekämpfung von Unruhen, das Escuadrón Móvil Antidisturbios, kurz ESMAD. Mehrere Menschen starben, über Monate flammten die Proteste immer wieder auf. Erst das Coronavirus stoppte die Demonstrationen.
Viele sind verzweifelt
Der Erreger hat Kolumbien schwer getroffen. Gemäss Beobachtern sind dafür neben der brasilianischen P1-Variante auch die britische und die südafrikanische Mutation verantwortlich. Zuletzt waren mehr als 500 Menschen pro Tag gestorben, so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Die Impfkampagne kommt nur schleppend voran. Dass dennoch so viele Menschen nun für die Proteste auf die Strassen gehen, zeigt, wie verzweifelt die Lage ist.
Fast ein Fünftel der Menschen im Land hat heute keine Arbeit mehr, Tausende sind in die Armut abgerutscht. Lange haben Ausgangsbeschränkungen zur Pandemiebekämpfung verhindert, dass sich der Unmut der Bevölkerung öffentlich entlädt. Die geplante Steuerreform war nun der Funken, der letztendlich zu den landesweiten Protesten geführt hat.
Brutale Übergriffe
Dass die Polizei mit solcher Härte gegen die Demonstranten vorgeht, hat dazu viele Kolumbianer zutiefst schockiert. Präsident Duque rechtfertigte die Gewalt zunächst mit Ausschreitungen, Vandalismus und Angriffen auf Polizisten. Gleichzeitig kursieren im Netz aber Hunderte Videos, die brutale Übergriffe vonseiten der Sicherheitskräfte zu belegen scheinen.
Demonstranten sagen, dass sie grosse Angst haben. «Wenn es dunkel wird, dann macht die Polizei Jagd auf uns», sagt eine 32-jährige Kolumbianerin aus Bogotá, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, aus Angst vor Übergriffen. Menschenrechtsgruppen berichten davon, dass Beobachter gezielt eingeschüchtert oder in ihrer Arbeit behindert werden.
Auch für die nächsten Tage sind wieder grosse Demonstrationen angekündigt. Eine UNO-Sprecherin rief deshalb zur Ruhe auf. Die UNO erinnere «die staatlichen Behörden daran, die Menschenrechte zu schützen, einschliesslich des Rechts auf friedlichen Protest», betonte sie. Schusswaffen dürften nur als «letztes Mittel» eingesetzt werden.
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