Benachteiligung im StudiumTierärztin ist ihr Traumberuf – dafür zieht sie bis vors höchste Gericht
Wegen einer Leseschwäche hätte Marion Vassaux bei Prüfungen Anspruch auf einen Zeitaufschlag. So will es das Gleichstellungsrecht. Doch die Universität Bern sieht das anders.

Man merkt es Marion Vassaux im Gespräch nicht an. Sie plaudert munter drauflos wie jede andere 20-Jährige, immer gerne ohne Punkt und ohne Pause.
Doch Vassaux leidet an Dyslexie. Sie hat Schwierigkeiten, Buchstaben zu erkennen, Wörter zu entziffern und ihren Klang mit der richtigen Bedeutung zu verknüpfen. Menschen mit Dyslexie können genauso intelligent sein wie andere. Aber viele von ihnen brauchen einfach mehr Zeit zum Lesen und Schreiben.
Jetzt geht Marion Vassaux für ihren Berufswunsch bis vors höchste Gericht. Unterstützt von der Behindertenorganisation Inclusion Handicap, legt sie beim Bundesgericht Beschwerde gegen einen Entscheid der Berner Behörden ein. Diese lehnten es ab, Vassaux bei der Zulassungsprüfung für das Medizinstudium mehr Zeit zu gewähren.
Die 20-jährige Waadtländerin will damit erreichen, dass ihr bei der Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium ein Zeitzuschlag gewährt wird. Sie sagt, die zusätzliche Zeit stelle sie nicht besser als andere Bewerber: «Wenn man mir das verweigert, ist das so, als würde man einer Kurzsichtigen verbieten, mit Brille zur Prüfung zu gehen.»
Recht auf Nachteilsausgleich
Die Universität Bern, dann der Regierungsrat und schliesslich das kantonale Verwaltungsgericht sehen das anders. Sie anerkennen zwar, dass Vassaux und andere Betroffene in Schule und Studium Anspruch auf Ausgleichsmassnahmen wie Zeitzuschläge haben. Das sei im Behindertengleichstellungsrecht so vorgesehen, anerkannt und üblich.
Aber: Bei der Zulassung zum Medizinstudium gelte dieser Grundsatz nicht, schreiben die Behörden in ihrem Entscheid. Denn der Aufnahmetest prüfe nicht nur das Fachwissen. Geprüft werde auch die Belastbarkeit der Kandidatinnen und Kandidaten, also «die Fähigkeit, auch unter Druck qualitativ hochstehende Arbeit zu leisten». Diese Kompetenz sei aber für das Medizinstudium und den Arztberuf zentral. «Eine willkürliche Verlängerung der Prüfungszeit würde den Charakter des Tests verändern», schreibt das Berner Verwaltungsgericht. «Ein Vergleich der Resultate und der Teilnehmer wäre nicht mehr möglich.»

«Bei mir wurde das Problem erst in der neunten Klasse entdeckt», sagt Vassaux, «also sehr spät.» Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben. Deshalb erzählte sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zunächst nichts davon. «Ich hatte Angst vor den Blicken der anderen.» Ihre Lehrerinnen und Lehrer reagierten unterschiedlich. «Einige waren verständnisvoll und wohlwollend», sagt Vassaux. «Andere fanden die Massnahmen übertrieben und wollten mir nicht wirklich helfen.»
Dabei sei es letztlich gar nicht so schwer, Anpassungen vorzunehmen. Und für das Lehrpersonal auch nicht so zeitaufwendig. Für Fälle wie den von Marion Vassaux sieht das Recht schulische Ausgleichsmassnahmen vor. Sie sollen sicherstellen, dass alle Betroffenen die Ausbildung machen können, die sie wollen und für die sie geeignet sind.
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Alle, auch Menschen mit Behinderungen, sollen ihr Potenzial voll ausschöpfen können. So will es das Behindertengleichstellungsrecht. Nachteilsausgleich bedeutet aber nicht, dass die Bildungsziele herabgesetzt werden. «Bei einer Intelligenzminderung sind Massnahmen des Nachteilsausgleichs ausgeschlossen», heisst es im Leitfaden der Schweizer Schulpsychologen.
Seit ihrer Diagnose erhält Vassaux bei Prüfungen mehr Zeit. Werden die Prüfungsblätter ihrer Kolleginnen und Kollegen nach einer Stunde eingesammelt, sind es bei ihr anderthalb. «Aber im Verhältnis zu meiner Lesegeschwindigkeit habe ich gleich viel Zeit wie alle anderen», sagt Vassaux.
«Die Zahl der Gesuche um Nachteilsausgleich nimmt stark zu.»
Wie viele Menschen in der Schweiz auf allen Schulstufen sogenannte Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen, ist nicht bekannt. «Die Datenlage ist lückenhaft», schreiben Bildungsfachleute um die Heilpädagogik-Professorin Claudia Schellenberg in einem Forschungsbericht. «Erkennbar ist aber die Tendenz, dass die Zahl der Gesuche stark zunimmt.»
Diese Zunahme ruft Kritiker auf den Plan. Der Schweizerische Gewerbeverband befürchtet, dass der Nachteilsausgleich von Einzelnen missbraucht wird, um sich gegenüber anderen Vorteile zu verschaffen. Vizedirektorin Christine Davatz sagte kürzlich zur «NZZ am Sonntag»: «Wir wissen nicht, wie hoch der Anteil der Missbräuche ist – aber diese Gefahr besteht zweifellos.» Der Nachweis für die Berechtigung zum Nachteilsausgleich ist von Kanton zu Kanton verschieden geregelt. Meist wird eine medizinische Diagnose der Lernbehinderung verlangt, dazu ein Attest einer Fachstelle.
Tierärztin zu werden, war schon immer der grosse Wunsch von Marion Vassaux. «In meiner Kindheit auf dem Land war ich immer von Katzen, Kaninchen und Hühnern umgeben», sagt sie. «Diesen Tieren helfen zu können – das wäre doch schön!»
Doch für die Ausbildung zur Tierärztin gilt wie für andere Medizinstudiengänge die Zulassungsbeschränkung Numerus clausus: Nur die Besten der Aufnahmetests bekommen die teuren Studienplätze. Vassaux hat die Matura 2021 problemlos geschafft, auch dank des Nachteilsausgleichs. Nun darf sie diesen für den Aufnahmetest nicht in Anspruch nehmen.
Kritik von Behindertenorganisation
Für Caroline Hess-Klein, Juristin bei der Behindertenorganisation Inclusion Handicap, ist das unverständlich: «Das Bundesgericht hat bereits mehrfach festgehalten, dass die Gewährung von Zeitzuschlägen bei Prüfungen rechtlich erforderlich sein kann, um eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung zu verhindern.»
Auch das Argument, dass mit einem Zeitzuschlag die Belastbarkeit nicht geprüft werden könne, lässt Hess-Klein nicht gelten: «Der Stress ist für Frau Vassaux mit Zeitzuschlag der gleiche wie für alle anderen, da sie die zusätzliche Zeit lediglich dafür aufwendet, die Prüfungsfragen zu lesen.» Zudem sei nicht in allen medizinischen Berufen – auch nicht beim Tierarzt – die Fähigkeit gefragt, schnell grosse Textmengen zu erfassen und zu verstehen.
Und schliesslich ist es wie an den meisten Hochschulen auch an der Universität Bern üblich, dass Menschen mit Behinderung im Medizinstudium Nachteilsausgleich erhalten. Das heisst: Die Uni gewährt Marion Vassaux für die Prüfung die Erleichterung nicht, die sie dann im Studium gewähren würde. «Das Verhalten der Universitätsleitung ist widersprüchlich», sagt Hess-Klein.
«Der Fall von Marion Vassaux ist ein gutes Beispiel dafür, wie borniert über Menschen mit Behinderungen geurteilt wird.»
Unterstützung erhalten Vassaux und Inclusion Handicap vom Schweizer Nobelpreisträger Jacques Dubochet. Der Chemiker leidet selbst an Dyslexie. Die Einschränkung wurde bei ihm festgestellt, als er 17 Jahre alt war und das Collège Scientifique in Lausanne besuchte. «Der Psychologe diagnostizierte mich als ersten Dyslexiker im Kanton Waadt.»

Einen gesetzlichen Nachteilsausgleich gab es damals noch nicht. Nur dank seiner Eltern und einer Reihe verständnisvoller Lehrer schaffte es Dubochet trotzdem. Bis zum Nobelpreis. «Wir haben ein System, das starr und engstirnig ist», sagt Dubochet. «Der Fall von Marion Vassaux ist ein gutes Beispiel dafür, wie borniert über Menschen mit Behinderungen geurteilt wird.»
«Es wäre toll, anderen helfen zu können»
Marion Vassaux kann und will nicht warten, bis das Bundesgericht entschieden hat. Sie hat inzwischen ein Studium der Biomedizin an der Universität Genf begonnen – und fühlt sich dort wohl.
Die Beschwerde beim Bundesgericht mache sie nicht nur für sich, sagt Vassaux. Dass sie sich an der Prüfung versucht, wenn ihre Beschwerde gutgeheissen wird, schliesst sie zwar keineswegs aus. Sie hat sie aber auch eingereicht für alle, die trotz Behinderung in Zukunft Veterinärmedizin studieren wollen. «Ihnen helfen zu können, das wäre schon toll.»
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