Chemieunfall in den USAMenschen klagen über Kopfschmerzen – alles nur Einbildung?
Nach der Zugentgleisung in Ohio wurde Vinylchlorid verbrannt, die Bewohner sprechen von Tschernobyl 2.0. Wie giftig ist die Chemikalie wirklich, und was bedeutet das für die Menschen?

Nach dem Zugunglück in East Palestine im US-Bundesstaat Ohio wurde Anfang Februar der Inhalt von fünf Tankwagen mit Vinylchlorid verbrannt. Es handelt sich dabei um den Grundbaustein für die Herstellung von PVC, einem gängigen Kunststoff, aus dem beispielsweise Kreditkarten, Gartenmöbel, Rohre oder Fensterrahmen gemacht werden. Der Ausgangsstoff Vinylchlorid ist ein giftiges und leicht entzündliches Gas.
Für Menschen ist das Einatmen von Vinylchlorid gefährlich, es kann bei längerem Kontakt Kopfschmerzen, Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Herzrhythmusstörungen oder Atemlähmung verursachen, langfristig auch Leberschäden bis hin zu Leberkrebs. Im Wasser hat es auch Folgen für Tiere und Pflanzen. Das Gas zersetzt sich an der Luft und hat eine Halbwertszeit von 20 Stunden.

Im Falle des Zugunglücks in Ohio entschied man sich aufgrund der Explosionsgefahr zur Verbrennung des Gases als «sichere» Lösung. Gemäss Chemieexperten ist das eine gängige Vorgehensweise, wie das Wissenschaftsmagazin «Spektrum» berichtet. Die Verbrennung sorgte für eine riesige schwarze Wolke, die auch vom Weltall aus zu sehen war. Die Bewohnerinnen und Bewohner von East Palestine wurden evakuiert, konnten aber später in ihre Häuser zurückkehren.
3500 tote Fische gemeldet
Der Chemieunfall sorgte aber für grosse Verunsicherung. Die Menschen klagten über einen komischen Geruch in der Luft, und es gab Berichte über Kopfschmerzen, Übelkeit, Taubheitsgefühle, Ausschläge oder blutigen Stuhl. Das Ohio Department of Natural Resources meldete rund 3500 tote Fische in vier Gewässern rund um East Palestine. Im Internet kursieren zudem Meldungen, dass Katzen und Hunde erkrankten oder Hühner gestorben seien, auch aus angrenzenden Ortschaften gab es ähnliche Berichte. Mittlerweile sprechen die Menschen von einem «Tschernobyl 2.0», das sich in East Palestine ereignet haben soll. Politiker versuchen daraus Kapital zu schlagen und pilgern nach Ohio, auch Donald Trump soll sich im Ort angekündigt haben.

Für die Behörden liegen aber alle Messwerte im grünen Bereich, wie mehrmals bestätigt wurde. Die Luftqualität werde konstant überwacht, auch aus den Gewässern wurden Proben entnommen und keine Verunreinigung festgestellt. Vinylchlorid verbrennt normalerweise zu Chlorwasserstoff, CO₂ und Wasser, es kann aber auch Phosgen gebildet werden. Die Behörden konnten allerdings während einwöchiger Messungen weder Vinylchlorid noch Chlorwasserstoff oder Phosgen nachweisen.
Weitere Chemikalien im Zug
Möglich wäre noch, dass andere Chemikalien Beschwerden verursachten, da in 15 der 50 entgleisten Waggons des Güterzugs auch Isobuten, Ethylhexylacrylat und Butoxyethanol transportiert wurden. Die Umweltbehörde bestätigt denn auch eine leichte Verunreinigung von zwei Bächen mit Butylacrylat und Ethylhexylacrylat. Videos in sozialen Medien zeigen denn auch, dass regenbogenfarbene Schlieren entstehen, wenn mit Stöcken am Bachboden gestochert wird. Gemäss US-Experten könnte das auf Vinylchlorid hindeuten, das dichter als Wasser ist und deshalb auf den Grund sinkt. Auch andere Chemikalien können solche Schlieren verursachen.

Vinylchlorid konnte allerdings bei den Messungen der Umweltbehörde nicht festgestellt werden. Ohnehin seien die festgestellten Verunreinigungen unter den Grenzwerten für die Chemikalien. Eine kurze Aussetzung könne bei Menschen zwar zu Schwindel und Kopfschmerzen führen, danach bleibe aber nichts zurück. Nur ein längerer Kontakt habe bleibende gesundheitliche Beschwerden zur Folge.
Die verantwortliche Güterzugfirma Norfolk Southern und die Umweltbehörden würden das Grundwasser langfristig überwachen, heisst es. Zudem wurde ein Bach beim Unglücksort mit Dämmen komplett abgeschottet. 450 Häuser wurden einzeln kontrolliert und die Luft- und die Wasserqualität überprüft. Die Behörden sind sicher, dass für die Bewohnerinnen und Bewohner eine Rückkehr an den Unglücksort gesundheitlich unbedenklich ist.
Ein Fall von Massenhysterie?
Trotzdem gibt es weiterhin Berichte über gesundheitliche Beschwerden von Menschen, die in ihre Häuser zurückkehren. Schon nach wenigen Minuten oder Stunden hätten sie Ausschläge bekommen, die Augen brennten, der Hals kratze, der Kopf schmerze, schreiben sie in sozialen Medien. Was ist da dran, wenn gemäss Behörden alles in Ordnung sein soll?
Eine mögliche Erklärung liefert das Phänomen der psychogenen Massenerkrankung, auch als Massenhysterie bezeichnet. Der Glaube, Gift ausgesetzt zu sein, sowie Angst vor möglichen Gesundheitsfolgen reichen dabei, dass Menschen Symptome entwickeln, obwohl es in Realität gar keine Gefahr gibt. Es gibt in der Geschichte einige Beispiele solcher psychogenen Massenerkrankungen, beispielsweise der Chatham-Kent-Vorfall von 2016. Im kanadischen Ort gab es Berichte, dass verunreinigtes Wasser Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit auslöse. Obwohl im Wasser nichts nachgewiesen werden konnte, verbreiteten sich die Gerüchte schnell, und immer mehr Menschen berichteten über ähnliche Symptome.
In Belgien gab es 1999 die Coca-Cola-Panik. Einige Schüler wurden durch das Süssgetränk krank, wonach Coca-Cola 2,5 Millionen Flaschen zurückrief. Nach Berichten darüber meldeten plötzlich Tausende in Europa, dass sie auch davon betroffen seien. Tatsächlich waren die meisten Fälle aber psychosomatisch bedingt und die Leute eigentlich gesund.
Am Flughafen von Melbourne brach im Jahr 2005 eine Frau ohne erkennbaren Grund zusammen und musste ins Spital gebracht werden. Viele Umstehende, die den Vorfall beobachtet hatten, meldeten sich in der Folge ebenfalls mit Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder gar Atembeschwerden, 47 wurden im Spital behandelt. Eine Ursache dafür wurde nicht entdeckt, und als bekannt wurde, dass es keine ernste Gefahr gab, hörte der Spuk auch wieder auf. Viele der Betroffenen setzten ihre Reise kurz darauf fort.
2018 erkrankten 106 Passagiere eines Emirates-Flugs von Dubai nach New York, das Flugzeug wurde von der Seuchenbehörde und Krankenautos empfangen. Die Passagiere wurden für kurze Zeit unter Quarantäne gestellt, dazu gehörte auch der Rapper Vanilla Ice. Letztlich stellte sich heraus, dass elf Personen eine Grippe oder eine Erkältung hatten, die restlichen sassen um diese herum und glaubten nur, dass sie nun auch erkrankt waren.
Berichte über solche Massenphänomene gehen zurück bis ins Mittelalter. Überliefert sind Fälle von Tanzwut, in denen Menschen sich in Ekstase tanzten und kein Erschöpfungsgefühl mehr hatten. Manche sollen gestorben sein; ob sie wirklich bis zum Tod tanzten, ist umstritten. Eine gängige Theorie ist aber, dass es sich dabei um eine Massenhysterie handelte.

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