Formel 1: Krach der TeamchefsMercedes-Boss Wolff poltert: «Erbärmlich! Hinterhältig!»
Die hüpfenden Autos erhitzen die Gemüter in der Königsklasse: Toto Wolff und Red-Bull-Chef Christian Horner geraten aneinander, die Fahrer befürchten Schlimmes.

Der Circuit Gilles-Villeneuve auf der Île Notre-Dame in Montreal ist eine Rennstrecke, an die sehr viele Piloten die mannigfaltigsten Erinnerungen haben. Gute und fürchterliche. Die Geraden sind dort lang und gesäumt von dicken Mauern nahe an der Piste. Mutige Piloten flirten mit der Gefahr und lassen ihre Reifen an einigen Stellen den Beton berühren. Geht es gut, sind sie die Helden. Geht es schief, sehen sie aus wie Fahranfänger.
Lewis Hamilton war auch mal ein Rookie in der Formel 1. Fast auf den Tag 15 Jahre war es am Sonntag her, dass er als Pilot an diese tückische Strecke reiste, die er zuvor tatsächlich noch nie befahren hatte. Im Juni 2007 war Hamilton bei McLaren ein 22-jähriges Talent an der Seite des drei Jahre älteren, zweimaligen Weltmeisters Fernando Alonso. Aber dann, an seinem sechsten Renn-Wochenende, legte der Lehrling in Montreal bereits seine Meisterprüfung ab. Nachdem er am Samstag seine erste Poleposition erobert hatte, gelang ihm tags darauf sein erster Sieg in der Formel 1. In einem denkwürdigen Grand Prix, in dem der erfahrene Alonso mehr schlingerte als der Neuling Hamilton. Ganz schön viel Stoff für Erinnerungen also.
Hamiltons Wunderheilung
Und auf diese hob Hamilton am Sonntag auch ab, als er in Kanada leichten Fusses als Drittplatzierter aus seinem Mercedes federte und plauderte: «Ich habe das heute nicht erwartet. Es ist mein zweiter Podestplatz in diesem Jahr. Das fühlt sich wirklich besonders an, ganz besonders hier. Ich liebe es in Montreal!»
All right, aber der Rücken? «Er ist gut. Ich bin wieder jung!», rief Hamilton.
Längsschnitte durch die Geschichte, also der Vergleich ähnlicher Situationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, faszinieren die Historiker seit jeher. Im Falle von Hamilton war am Sonntag nicht nur die 15-Jahre-Parallele spannend, sondern auch die 7-Tage-Entsprechung. Wer die beiden Bilder nebeneinanderlegte, auf denen Hamilton aus seinem Rennwagen kletterte, erst in Baku, nun in Montreal, der fühlte sich, als wäre er Augenzeuge einer Wunderheilung.

In Aserbeidschan benötigte Hamilton nach der Achterbahnfahrt in seinem hüpfenden Silberpfeil eine gefühlte Ewigkeit, um aus dem Cockpit zu klettern, auf dem Weg in die Box wurde er gestützt. In Kanada lief er beschwingt und gut gelaunt zu seiner erst zweiten Champagner-Feier in diesem Jahr, und man benötigte keine Röntgenaufnahmen, um zu erkennen, dass seine Wirbelsäule diesmal weniger Erschütterungen ausgesetzt worden war als eine Woche zuvor.
Mercedes hatte in Montreal nicht nur das als «Bouncing» bekannte Phänomen besser im Griff als in Baku. Die Silberpfeile hatten auch insofern Grund zu gehobener Laune, als zusätzlich George Russell mit seinem vierten Platz den Eindruck bestätigte, dass sich das Team wieder näher herangeschoben hat an die seit Saisonbeginn enteilten Rivalen Red Bull und Ferrari.
Mercedes schreibt Titel ab
«Wir müssen happy sein. Wir haben das auf der Strecke herausgefahren. Das ist okay», sagte Mercedes-Teamchef Toto Wolff – aber auch: «Wir müssen aufpassen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.» Helmut Marko, der weder als Ornithologe noch als Freund von Sinnsprüchen bekannte Motorsportberater von Red Bull, packte eine ähnliche Beobachtung in eine schlichte Warnung: «Mercedes hat massiv aufgeholt.» Um gleichwohl jeglicher unberechtigter Vorfreude in der Anhängerschaft bei Mercedes vorzubeugen, stellte Wolff klar, im Titelkampf sei «der Zug schon lange abgefahren». Ziel sei es aber, noch Rennen zu gewinnen: «Und ich glaube, das können wir schaffen.»
Nun ruft der Blick auf den WM-Stand beim neutralen Beobachter in der Tat Ernüchterung hervor. Der Führende Max Verstappen ist nach seinem bereits sechsten Sieg schon bis auf 46 Punkte enteilt. Dass es sich beim Zweiten um seinen Teamkollegen Sergio Pérez handelt, der drei Punkte mehr gesammelt hat als Charles Leclerc im Ferrari, lässt den Wettbewerb nicht gerade vor Spannung übersprudeln.
Tatsächlich aber verfügte die Scuderia, die sich in den drei Rennen zuvor mit technischen Pannen und eklatanten strategischen Fehlentscheidungen selbst um die Punkte gebracht hatte, auch am Sonntag wieder über die schnellsten Fahrzeuge im Feld. Der wegen zahlreich getauschter Teile an seinem Motor in die letzte Startreihe strafversetzte Leclerc raste zumindest noch vor auf Platz fünf. Und sein Teamkollege Carlos Sainz, der dank einer Safety-Car-Phase kurz vor Schluss den Leader Verstappen plötzlich wieder vor sich hatte, kämpfte sich auf frischeren Reifen immer wieder dicht an den Niederländer heran.
«Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir einen schweren Zwischenfall sehen werden.»
Die heftigste Schlacht wurde aber nicht auf der Strecke ausgetragen, sondern hinter verschlossenen Türen beim Treffen der Teamchefs. Obwohl sie sich ja in diesem Jahr nicht länger um die relevanten Pokale balgen, gerieten Mercedes-Boss Wolff und Red-Bull-Teamchef Christian Horner in der Frage des weiteren Vorgehens in Sachen Bouncing aneinander. Und zwar genau deshalb.
Offensichtlich sorgt sich Red Bull, dass die Silberpfeile, die nach wie vor am stärksten unter dem unaufhörlichen Hoppeln der Autos leiden, schon bald wieder um Siege mitfahren könnten, sollte der Automobilweltverband FIA Nachbesserungen an der Aerodynamik der Autos vornehmen, die bislang Red Bull und Ferrari am besten im Griff haben.

Bei dem Treffen am Samstag soll Wolff sehr laut geworden sein, als er im Sinne der Gesundheit der Fahrer argumentierte, die mit einem offiziellen Protest eine Untersuchung der FIA überhaupt erst angestossen hatten. Russell, Sprecher der Gemeinschaft aller 20 Piloten und Mercedes-Pilot, hatte gesagt, es sei «nur eine Frage der Zeit, bis wir einen schweren Zwischenfall sehen werden. Viele von uns können ihr Auto doch kaum auf einer geraden Linie halten.»
Horner jedoch wollte auf dem Treffen von gesundheitlichen Bedenken nichts wissen. Stattdessen soll er seinen Kollegen bei Mercedes einmal mehr den schlangenzüngigen Ratschlag erteilt haben, sie sollten ihre Autos höher legen, um das permanente Aufsetzen der Boliden abzustellen, was die Silberpfeile freilich weiter bremsen würde. Wolff brachte das in Rage. «Es gibt Kollegen, die versuchen, das Gesagte zu manipulieren, um den Wettbewerbsvorteil zu behalten, und die politische Spiele spielen», sagte er anschliessend. Das sei «erbärmlich» und «hinterhältig».
Tatsächlich hatte die FIA auf den Vorstoss der Fahrer unüblich schnell reagiert und bereits für das vergangene Rennwochenende Messungen der Fahrzeugschwingungen angeordnet. Welche Folgen diese Untersuchung und mögliche Gegenmassnahmen auf den Titelkampf haben werden, ist in Zeiten einer wie zementiert wirkenden Führung Verstappens in der Gesamtwertung eine spannende Frage.
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