Politische Gewalt in BrasilienMord lässt blutige Wahlkampagne befürchten
Ein Bolsonaro-Fan erschiesst einen Lula-Anhänger, doch Brasiliens Staatschef wiegelt ab. Das Land, wo bald die Präsidentenwahl stattfindet, rechnet mit einer Eskalation der Gewalt.

Es ist nicht so, dass es keine Warnungen gegeben hätte, keine dunklen Vorahnungen und schlimmen Befürchtungen. Dennoch sitzt der Schock tief in Brasilien über das, was geschehen ist: ein Mord, verübt aus Hass. Der Täter ist ein Anhänger des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, das Opfer ein Unterstützer seines Herausforderers Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT).
Eine Woche ist seit der Tat vergangen, aber immer noch füllt das Attentat Zeitungen und Nachrichtensendungen. In zweieinhalb Monaten sind Präsidentschaftswahlen in Brasilien, offiziell hat der Wahlkampf überhaupt noch nicht begonnen, die Stimmung aber ist schon jetzt aufs Äusserste gespannt. Die Bluttat vom vergangenen Wochenende lässt viele Menschen in Südamerikas grösster Demokratie befürchten, dass ihnen und ihrem Land in den nächsten Wochen und Monaten noch Schweres bevorsteht.
Wie es genau zu dem Mord am vorletzten Samstag gekommen ist, ist noch immer nicht ganz geklärt. Alles begann mit einer Geburtstagsparty in der südbrasilianischen Stadt Foz do Iguaçu. 50 Jahre alt war Marcelo de Arruda geworden, und um das zu feiern, hatte er ein paar Freunde eingeladen. Das Motto des Fests: der linke Präsidentschaftskandidat Lula und seine PT. Arruda war selbst begeistertes Mitglied der Arbeiterpartei. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Lula soll die guten alten Zeiten zurückbringen».)
Ein Video des Abends zeigt, wie um kurz vor Mitternacht ein weisser Wagen vor dem Veranstaltungssaal vorfährt. Am Steuer des Autos: Jorge José da Rocha Guaranho, ein Gefängniswärter und «bolsonarista», der im Netz stolz Fotos von sich mit einem der Söhne des rechten Präsidenten postete. Dort stellte sich Guaranho als konservativer Christ dar, der gegen Abtreibung ist und für das Recht auf freien Zugang zu Waffen. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Zahl der Waffenbesitzer in Brasilien markant gestiegen».)
Der Bolsonaro-Fan kommt vielleicht zufällig bei der Feier vorbei, vielleicht bewusst. Die beiden Männer kennen sich jedenfalls nicht, so bestätigen es Zeugen und Angehörige. Als Guaranho merkt, dass bei der Party nicht nur ein Geburtstag gefeiert wird, sondern auch die Arbeiterpartei und deren Präsidentschaftskandidat Lula da Silva, da dreht er das Autoradio auf, und aus den Boxen dröhnt Musik, die für Bolsonaro wirbt.
Arruda, das Geburtstagskind, tritt vor die Tür, es kommt zum Streit zwischen den beiden Männern, erst fliegen Beschimpfungen, dann Steine. Guaranho steigt wieder in sein Auto, wenig später aber kommt er zurück, diesmal mit einer Waffe in der Hand. Er betritt die Feier, schreit «Hier kommt Bolsonaro!» und «Lula ist ein Dieb!». Dann eröffnet er das Feuer.
Arruda, selbst bewaffnet, fällt zu Boden, schiesst aber zurück. Ein paar Sekunden nur, dann ist alles vorbei, am Ende kommen beide Männer ins Spital. Der Angreifer ist schwer verletzt, sein Opfer dagegen stirbt schon wenige Stunden später.
«Mission erfüllt», schreibt die Zeitung «Folha de São Paulo» ein paar Tage später, mit bitterer Erkenntnis. Der Mord sei schliesslich genau das gewesen, was Präsident Jair Bolsonaro schon vor Jahren von seinen Anhängern gefordert habe: «Knallen wir den Abschaum von der Arbeiterpartei ab», rief er 2018 bei einem Auftritt der jubelnden Menge zu, in der Hand einen Kameraständer, den er wie ein Maschinengewehr hielt und mit dem er so tat, als schiesse er in die Luft.

Bolsonaro war damals noch ein Präsidentschaftskandidat, seine Rhetorik aber hat der Staatschef seit seinem Amtsantritt kaum entschärft. Fast einen ganzen Tag brauchte er nun, um sich überhaupt zu dem Mord zu äussern. Er distanziere sich von gewaltbereiten Unterstützern, schrieb Brasiliens Präsident im Netz – nur um dann gleich wieder auszuteilen gegen seine politischen Gegner, Lula da Silva also, die Arbeiterpartei und ganz allgemein die Linke. Historisch, sagt Bolsonaro, sei sie es doch gewesen, die stets auf Gewalt gesetzt habe.
Brasiliens rechter Präsident spielt dabei natürlich an auf jenes Attentat, bei dem er selbst zum Opfer wurde: 2018, bei einer Wahlkampfveranstaltung, rammte ein Angreifer dem heutigen Staatschef ein Messer in den Bauch. Bolsonaro überlebte schwer verletzt, der Attentäter wurde festgenommen. Er gab an, im Auftrag Gottes gehandelt zu haben, aber auch, dass er früher einmal Mitglied einer linken Partei war.
Brasilien ist eines der gefährlichsten Länder der Welt, allein vergangenes Jahr gab es mehr als 40’000 Morde, und immer wieder werden auch Politiker Opfer der Gewalt. Nun aber, mit dem extrem polarisierenden Präsidentschaftswahlkampf, haben viele Angst, die Situation könnte ausser Kontrolle geraten. Verbale Attacken und tätliche Angriffe zwischen den beiden Lagern haben sich in den letzten Tagen gehäuft. Der Mord an Arruda war eine weitere Eskalationsstufe, und viele Menschen fragen sich, wie es nun weitergeht.
Präsident Bolsonaro hat in den letzten Tagen versucht, den Fall kleinzureden. Er hat mit Angehörigen telefoniert und sie in die Hauptstadt Brasília eingeladen. Einige Familienmitglieder sprechen nun aber davon, dass der rechte Präsident politischen Nutzen aus der Tat und seiner öffentlichen Anteilnahme schlagen wolle.
Im südbrasilianischen Foz do Iguaçu ermittelt die Polizei. Gegen Jorge José da Rocha Guaranho wurde Haftbefehl erlassen. Er liegt wegen seiner Schussverletzungen immer noch im Spital. Das Opfer, Marcelo de Arruda, hinterlässt eine Frau und vier Kinder, das jüngste ist nicht einmal drei Monate alt.
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