Führungswechsel mit FragezeichenMusk hört auf als Twitter-Chef: Wer wird Chefin?
Elon Musk kündigt an, als Chef des Kurznachrichtendienstes aufhören zu wollen. Den Namen der Nachfolgerin verrät er noch nicht. Eine Vermutung gibt es bereits.

Es mag sich um Zufall handeln, aber natürlich ist dieses Timing urkomisch: In der Nacht auf Freitag kündigte Elon Musk seinen Rückzug als Chef von Twitter an. In etwa sechs Wochen werde seine Nachfolgerin beginnen – deren Namen er aber nicht verriet. Über das Pronomen «she» deutete er lediglich an, dass es sich wohl um eine Frau handeln wird.
Er selbst werde sich als Technikchef und Vorstand um Plattform, Software sowie Systemfunktionen kümmern. Dinge also, die einem Tüftler wie ihm sowieso mehr Spass machen – so, wie er beim Raketenbauer Spacex für die Produkte verantwortlich ist.
Eine Ein-Mann-Marketingmaschine bleibt Musk als Twitter-Lucky-Luke ohnehin: Er sendet schneller als sein Schatten und damit häufig auch schneller als jener Reflex, der andere Menschen in der Regel davor bewahrt, etwas töricht Unüberlegtes zu sagen.

Komisch wird der Zeitpunkt der Musk-Ansage dadurch, dass nicht einmal 48 Stunden zuvor Tucker Carlson verkündete, dass er wieder da sei – und zwar: auf Twitter. Er werde dort, auf der einzigen Plattform der englischsprachigen Welt, auf der man noch die Wahrheit sagen dürfe, in etwa das tun, was er davor sechseinhalb Jahre bei Fox News getan habe: «Und ein bisschen mehr.»
Der rechtspopulistische Kabelsender hatte Carlson vor die Tür gesetzt. Vor Gericht hat sein früherer Arbeitgeber klargemacht: Niemand, der seinen Verstand beisammen habe, würde Sachen, die Carlson aus seinem Mund plumpsen lässt, für die Wahrheit halten. So argumentierten die Anwälte.
In einem anderen Fall einigte sich Fox News kürzlich aussergerichtlich gegen Zahlung in Höhe 787,5 Millionen Dollar – auch und vor allem wegen des Unsinns, den Carlson über vermeintlichen Betrug bei der Präsidentschaftswahl 2020 verbreitet hatte. Carlson ist also hauptberuflich: ein Lügner. Und den hatte Fox News entlassen.
«Twitter ist unparteiisch, jeder kann mitmachen, und das ist gut so.»
«Ihr werdet manipuliert», ruft Carlson den Leuten nun in bester Carlson-Verschwörungstradition auf Twitter zu. Dann hält er eine Ode aufs Recht, auf freie Rede und dass in den USA jede Person sagen dürfe, was sie für die Wahrheit halte: «Erstaunlicherweise gibt es heutzutage kaum noch Plattformen, auf denen freie Rede erlaubt ist. Die letzte grosse, ja, die einzige, die uns auf der Welt noch geblieben ist, das ist Twitter. Es war lange Zeit der Ort, an dem landesweite Debatten entstanden sind und sich entwickeln durften. Twitter ist unparteiisch, jeder kann mitmachen, und das ist gut so. Wir sind dankbar, dass wir hier sein dürfen, das Recht auf freie Rede ist das Wichtigste; ohne es gibt es keine anderen. Bis bald.»
Musk, der sich selbst als «Free Speech Absolutist», einen Freie-Rede-Absolutisten, bezeichnet und traditionelle Medien häufig – und häufig auch zu Recht – kritisiert, dürfte jedem einzelnen Wort von Carlson zustimmen. Aber, und damit ist auch schon das philosophische und damit gesellschaftliche Dilemma von Twitter unter Musk ganz wunderbar erklärt: Was bedeutet es, wenn ein mehrfach überführter Lügner wie Tucker Carlson behauptet, dass Twitter der einzige Ort auf der Welt sei, an dem er noch sagen dürfe, was er, der Lügner, für Wahrheit halte?
Musk liess kaum einen Stein auf dem anderen
Im vergangenen Oktober hatte Musk den Kurznachrichtendienst Twitter nach monatelangem Hin und Her für 44 Milliarden Dollar übernommen. Und will man so neutral wie nur möglich beschreiben, was er seit Tag eins in der Firmenzentrale in San Francisco getan hat, dürfte man sagen, dass er kaum einen Stein auf dem anderen gelassen hat.
Mitte April bestätigte er, dass er seit dem Zukauf knapp 80 Prozent der Belegschaft entlassen hat und derzeit nur noch ungefähr 1500 Leute bei Twitter arbeiten. Er hob die Sperrung der Accounts kontroverser Leute auf – zum Beispiel bei Kanye West (den er später wieder sperrte, weil er ein Hakenkreuz gepostet hatte). Oder auch Donald Trump (der die Einladung zur Rückkehr ausschlug – schliesslich hat der jetzt sein eigenes Netzwerk, Truth Social).
«Zufälligerweise habe ich sehr viel Ahnung von Software, und Elon Musk sagt die dümmsten Sachen, die ich jemals gehört habe.»
Das alles führte zu Angst bei Werbetreibenden, Reklame in einem Umfeld voller Hass, Zwiespalt und Lügen (siehe: Tucker Carlson), statt konstruktiver und gerne auch mal hart geführter Debatten zu schalten. Musk reagierte, denn er will Twitter profitabel machen, mit einem Bezahlabo zur Verifizierung von Accounts. Es stellte sich heraus, dass Musk die monatliche Gebühr von acht Dollar für Prominente wie Basketballstar LeBron James oder Autor Stephen King selbst bezahlte.
Musk sagte im April, dass «viele Fehler» gemacht worden seien seit dem Zukauf; es gibt deshalb noch eine andere Lesart seiner Twitter-Regentschaft. Der Software-Ingenieur Rod Hilton schrieb bei Twitter über Musk: «Er sprach über E-Autos. Ich habe keine Ahnung von Autos; wenn Leute also sagten, er sei ein Genie, habe ich gedacht, dass er eines sein müsse. Dann sprach er über Raketen. Ich habe keine Ahnung von Raketen; wenn Leute sagten, er sei ein Genie, habe ich gedacht, dass er eines sein müsse. Jetzt spricht er über Software. Zufälligerweise habe ich sehr viel Ahnung von Software, und Elon Musk sagt die dümmsten Sachen, die ich jemals gehört habe. Wenn die Leute sagen, er sei ein Genie, dann sollte ich um Himmels willen die Finger von seinen Autos und Raketen lassen.»
Twitter-Übernahme bremste Tesla-Aktie
Und damit ist man beim Grund für Musks Rückzug als Twitter-Geschäftsführer: Es ist auffällig ruhig geworden um den Elektroautobauer Tesla. Der Anfang März veranstaltete Investorentag kam daher wie eine Reihe von Proseminaren in Maschinenbau, Robotik und Designkunst. Visionäre oder gar grössenwahnsinnige Ideen: Fehlanzeige. Ähnlich war es beim Quartalszahlen-Telefonat Ende April, bei dem er, der stets ungeduldig wirkt beim Versuch, diesen Planeten zu retten, Anleger zu Geduld mahnte: Tesla sei für eine Welt voller selbstfahrender E-Autos besser gerüstet als jeder andere Autobauer.
Linda Yaccarino fehlt bisher nur auf der Liste «Menschen, die dumm genug sind, Twitter-Chefin zu werden».
Die Anleger reagierten verhalten. Überhaupt hat das Tesla-Papier seit der Twitter-Übernahme ein Viertel des Wertes verloren. Die Ankündigung der neuen Chefin liess die Aktie um etwa zwei Prozent auf 172,80 Dollar steigen.
Es wird natürlich heftig spekuliert, wer Musks Nachfolgerin sein könnte. Eine E-Mail-Anfrage dieser Zeitung wurde erwartungsgemäss – noch so ein juveniler Witz von Musk – mit einem Kack-Kringel-Emoji beantwortet.
Das «Wall Street Journal» behauptet unter Berufung auf Leute, die an den Verhandlungen beteiligt sind, dass es Linda Yaccarino werden solle. Die «New York Times» teilt die Vermutung. Sie verantwortet derzeit beim Medienkonzern NBC Universal das weltweite Anzeigengeschäft und fehlt auf keiner Liste der Klugen und Mächtigen. Eine kleine Auswahl: «Ten Most Powerful Women in TV» (Adweek), «Top 10 People Transforming Advertising» (Business Insider), «Women in Entertainment: Power 100» (Hollywood Reporter).
Auf einer Liste ist sie bisher jedoch nicht zu finden: «Menschen, die dumm genug sind, Twitter-Chefin zu werden». Diese Liste hat Musk selbst erstellt, nachdem 58 Prozent der Twitter-Nutzer bereits im Dezember dafür gestimmt hatten, dass er doch besser als Chef abtreten solle. Er werde abtreten, sagte er, wenn er jemanden gefunden habe, der dumm genug sei, den Job zu wollen – aber wer sei das schon?
Musk wird nicht weg sein
In der Tat dürfte die neue Chefin zunächst einmal damit zurechtkommen müssen, dass Musk nicht weg sein wird. Bei Spacex führt Gwynne Shotwell das Tagesgeschäft, verantwortlich für die – oft sehr coolen – Produkte und natürlich auch Galionsfigur: Elon Musk.
So dürfte das künftig auch bei Twitter sein, und das ist noch ein Grund, der für die Wall-Street-Kandidatin Yaccarino spricht: Ausserhalb der Branche ist sie kaum bekannt. Leute, die sie kennen, sagen allerdings, dass es ihr völlig genügt, wenn intern bekannt ist, dass Dinge grösser werden und besser laufen, wenn sie die Fäden in der Hand hält. Das gilt auch bei ohnehin riesigen Dingen wie dem Geldverdienen durch die Übertragung von Olympia oder Super Bowl.
Die zweite Aufgabe neben der, sich neben – oder vielmehr unter Musk – als Chefin zu etablieren: Die Firma auf Kurs bringen. Allerdings einen Kurs, den vermutlich auch weiterhin Musk vorgeben wird. Und wenn der sich selbst treu bleibt, wird er das auch stets höchstselbst auf Twitter verkünden. Dazu gehört dann eben auch das Dilemma, dass der Lügner Carlson die Plattform als die einzige ausruft, auf der man die Wahrheit sagen dürfe – und eben dort seine neue Show publizieren darf.
Musk ist bekannt dafür, dass er solche Kontroversen gar köstlich findet; der aktuelle Beweis dafür: Er lud Don Lemon, Erzfeind von Carlson und am selben Tag wie dieser gefeuert (allerdings von CNN), dazu ein, doch ebenfalls eine neue Show zu starten, und zwar auf Twitter. Einen Seitenhieb auf traditionelle Medien konnte er sich dabei freilich nicht verkneifen: «Die Reichweite ist viel grösser.»
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