Wie von Geisterfuss
Mit der komplett überholten S-Klasse hebt Mercedes-Benz das teilautonome Fahren erneut auf ein neues Level. Die Füsse von Fahrer oder Chauffeur haben nun oft gar nichts mehr zu tun.

Ob sich Daimler der Ironie der eigenen Ansprüche bewusst ist? «Das Beste oder nichts» – mit diesem Slogan geht Mercedes-Benz seit einigen Jahren hausieren, und der Spruch hat sich schon so weit ins kollektive Gedächtnis eingeprägt, dass die Marketingleute kürzlich die komplette Front der «SonntagsZeitung» mit dem Wort «nichts» auf schwarzem Grund bedrucken liessen. Gleichzeitig erhebt der Hersteller den Anspruch, mit der S-Klasse nichts weniger als das beste Auto der Welt zu bauen. Nimmt man ihn allzu wörtlich, könnte man sich die Modelle von A- bis E-Klasse also schenken.
Nicht jeder indes hat das nötige Kleingeld, um sich eine S-Klasse in die Auffahrt zu stellen. Die Preise für das Flaggschiff, das dieser Tage in einer überarbeiteten Version auf den Markt kommt, beginnen bei 107'600 Franken und enden bei einem Betrag um die 300'000 Franken, wenn man denn auf 12 Zylinder, den Beisatz Maybach und die Langversion Wert legt – notabene eines Autos, das sich in der Basisvariante schon über 5,12 Meter erstreckt.
Luxus, ja Überfluss ist seit jeher das Grundthema der S-Klasse, und darum ist es bei einer Modellüberarbeitung nicht mit dem neuen Frontkühlerrahmen getan. Ganze 6500 Teile will Mercedes ausgetauscht haben. Von Belang sind dabei vorab die drei neuen Motoren. Das sind ein sparsamer Reihensechszylinder-Diesel mit 286 oder 340 PS (5,5 Liter Normverbrauch) und ein Reihensechszylinder-Benziner mit 367 oder 435 PS (8,5 oder 9,3 Liter). Dazu debütiert, quasi als Krönung, ein neuer V8 mit bis zu 612 PS und verbrauchsschonender Zylinderabschaltung. Der damit ausgerüstete Mercedes-AMG S63 4Matic+ erledigt den Sprint auf Tempo 100 in für diese Fahrzeugklasse wahnwitzigen 3,5 Sekunden und lässt damit die nach wie vor erhältlichen V12-Varianten alt aussehen.
Alle Motoren, versichert der Hersteller, wurden auf die Erfüllung zukünftiger Emissionsgesetze und auf realitätsnahe Messzyklen ausgelegt. Alle Aggregate, auch die Benziner, verfügen über einen Partikelfilter, die Selbstzünder über eine Abgasnachbehandlung. Der Dieselskandal, der just in den Tagen der S-Klasse-Präsentation im Zürcher Nobelhotel Dolder Grand neu befeuert wurde, schwingt in solchen Versicherungen freilich mit.
Apropos: Der im Zusammenhang angeblicher Industrieabsprachen erhobene Vorwurf mangelnder Innovationskraft bestätigt sich in der neuen S-Klasse nicht. Mercedes-Benz hat das teilautonome Fahren erneut auf ein neues Level gehoben, wohlverstanden in der Chauffeurslimousine schlechthin, was wiederum nicht einer gewissen Ironie entbehrt.
Der Abstandsassistent Distronic operiert nun auf Basis von Streckendaten. Will meinen: Ist im Navigationssystem ein Ziel festgelegt, regelt die S-Klasse die Geschwindigkeit autonom, bremst vor Abbiegungen oder Kreiseln ab und beschleunigt wieder heraus. Auch Verkehrsschilder, etwa vor Baustellen, werden ausgelesen und die Anordnungen übernommen. Gas und Bremse agieren wie von Geisterfuss. Nur im Stadtverkehr, mit seinen Ampeln, schaltet sich das System aus. Über Land aber kann man es über weite Strecken beim Lenken respektive Mitlenken – denn da agiert ja auch eine automatische Lenkunterstützung – belassen. Sogar die Fahrcharakteristik befolgt die S-Klasse. Im Sportmodus werden also Kurven schneller durchfahren.
Erneut verbessert hat Mercedes-Benz auch die Sicherheitsassistenten, die Fussgänger erkennen und Auffahrunfälle vermeiden. Wenn beim Anfahren in der Kolonne der Vordermann brüsk bremst, tut dies auch die S-Klasse, und auch beim Ausweichen ist sie im Notfall behilflich. Bei Versuchsfahrten auf einem deutschen Flugplatz anlässlich der Präsentation funktionieren diese Systeme tadellos.
Alles aufzuzählen, was Mercedes-Benz sonst noch in die S-Klasse hineingepackt hat, würde den Bogen überspannen. Sagen wir es so: Man kann das Betriebshandbuch getrost einen Monat als Gutenachtlektüre aufs Beistelltischchen legen. Ein paar Müsterchen seien aber herausgepickt: Die Scheinwerfer leuchten jetzt so weit, wie es das Gesetz maximal erlaubt, 650 Meter. Die S-Klasse analysiert vorausschauend die Bodenverhältnisse und passt die Dämpfung an, der Abrollkomfort ist nicht von dieser Welt. Wer will, kauft sich die Neigefunktion für Kurven dazu, der Benz macht dann den Pendolino.
Im Interieur sind die zwei grossen 12,5-Zoll-Displays nun zu einem frei konfigurierbaren Wide Screen zusammengewachsen. Das Lenkrad hat Touch-Pad-Tasten, der Tempomat wurde integriert. Der Rest sind offenporige Hölzer, feines Leder und allerlei weitere Annehmlichkeiten. Der Komfort lässt sich nun über Themenprogramme steuern. Sie heissen Vitalität, Freude oder Training und kombinieren Einstellungen von Sitzmassage, Klimaanlage, Beleuchtung. Und, kein Witz, die S-Klasse liefert sogar die passende Musik dazu. Einige Stücke sind beim Kauf bereits an Bord. Lädt man eigene Musik aufs System, werden die Songs nach Beats pro Minute ausgewertet und entsprechend ausgewählt.
Ist das also das beste Auto? Nicht in jedem Belang. Die Sprachsteuerung zum Beispiel erkennt 450 Bedienbegriffe, bei BMW versteht sie auch Sätze, die über die Bedienung hinausreichen. Der Wettbewerb im deutsch-deutschen Hochpreissegment findet eben doch statt.
Auf der Testfahrt macht es sich ein Schweizer Berufskollege auf dem Chefsitz hinten rechts bequem, legt den Kopf in die dicken Kissen und klappt den Laptop auf. Sein Auftrag: einen Leitartikel über den Abspracheskandal zu schreiben. Und wieder ist da Ironie.
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