Fast wie fliegen
Was für ein Gefühl, an der Steilkante zu stehen und auf den 1600 Meter weiter unten liegenden Walensee zu blicken. Die Aussicht mit Adrenalinfaktor gibt es im Frümseltal, dem Panoramabalkon der Churfirsten.
Ein Schritt. Und noch einen. Dann beginnt es zu kribbeln in den Füssen und die Hände werden feucht. Vor den Schneeschuhen bricht das Tal jäh ab, die Felsen stürzen hunderte Meter in die Tiefe. Vor, neben und vor allem unter uns tut sich ein gewaltiger Blick auf.
Wie aus einem Fenster gucken wir aus der Churfirsten-Steilwand über das Land. Linkerhand klotzt die Brisi, rechterhand erhebt sich keck der Frümsel. Gegenüber sind die St. Galler, Glarner und Bündner Alpen aufgereiht, neben- und hintereinander. Und unten, ganz weiten unten fläzt der tiefblaue Walensee und erstrecken sich die Linthebene und das Sarganserland. 1600 Höhenmeter sind es, die uns trennen. Den Panoramablick erhält, wer ins Frümseltal aufsteigt, das zwischen Brisi und Frümsel eingeklemmte Hochtal mitten in den Churfirsten.
Märchenlandschaft zum Auftakt
Beim Start der Schneeschuhtour auf der Alp Selamatt weist noch wenig auf die hochalpine Szenerie hin, die uns gut zwei Stunden später umhüllen wird. Die Gondelbahn hat uns von Alt St. Johann auf die Aussichtsterrasse über dem Toggenburg gebracht, ein mit pinkfarbenen Stangen reich markierter Schneeschuhtrail erleichtert im unübersichtlichen Gelände die Orientierung. Die Landschaft ist ein Traum. Mal geht es durch lichten Wald, mal über tiefverschneite Weiden, ab und an wartet ein Tälchen oder ein kleiner Abhang, den man raufstapft oder hinunterrennt. Die Churfirsten am Horizont vervollständigen das perfekte Bild.
Eine erste Pause haben wir bei der Alp Lochhütte verdient. Vor den schmucken Hütten unter der kleinen Felswand räkeln wir uns in der Sonne; dass Brisi und Frümsel und damit der Ernst der Tour merklich näher gekommen sind, blenden wir aus. Den markierten Trail lassen wir nach der Lochhütte links liegen und halten Kurs auf die letzte Alp vor dem Frümseltal: Brisizimmer. Die Brisi, die Gigantin unter den Churfirsten, weist den Weg.
Woher ihr Name?
Die Churfirsten mit ihren schräg aufgestellten Bergrücken sind Toggenburgs Wahrzeichen. Sieben sind es an der Zahl, von Ost nach West heissen sie Chäserrugg, Hinderrugg, Schibenstoll, Zuestoll, Brisi, Frümsel und Selun. Ganz anders präsentiert sich die Bergkette dem Sarganserland. Fast senkrecht fallen hier die Churfirsten ab zum Walenstadtberg und dem Walensee. Unwirtliches und scheinbar unzugängliches Gebirge. Woher ihr Name stammt ist umstritten.
Eine Version besagt, dass er auf die sieben Kurfürsten des Heiligen Deutsch-Römischen Reichs zurückgeht. Eine andere geht davon aus, dass die Grenze zwischen den Bistümern Konstanz und Chur über die Bergkette verlief und man deshalb den Namen wählte. Gesichert ist hingegen, dass die sieben in einer Reihe stehen und fast gleich hoch sind: Der Hinderrugg bringt es auf 2306 Meter, der Selun am anderen Ende der Skala auf 2204 Meter. Dazwischen liegen enge und zerfurchte Täler, von denen das Frümseltal das am einfachsten zugängliche ist.
Schön zu wissen, wie wir nach dem Brisizimmer im zunehmend steilen Gelände bergauf keuchen. Verirren kann man sich kaum, der Hang ist mit Spuren übersät. Brisi und Frümseltal sind beliebte Tourenziele. Am westlichsten Punkt der Brisi, bei den grossen Felsen, ist das Gröbste geschafft. Das Frümseltal fordert zwar auch mit zwei, drei knackigen Aufschwüngen. Doch dazwischen liegen sanfte Abschnitte. Sie lassen Schnauf, um die hochalpine Welt auf sich wirken zu lassen und um Ausschau zu halten nach Gämsen, die in den Felswänden über unseren Köpfen herumturnen.
Die Dohlen spekulieren
Und dann, völlig unvermittelt, tut sich der Abgrund auf. Wie aus einem Fenster blicken wir aus dem Frümseltal in die Weite und die Tiefe. Das Gefühl ist gewaltig, fast wie fliegen. Doch das überlassen wir den Dohlen, die lautlos über uns kreisen und auf unsere Picknickresten spekulieren. Will man hier oben rasten, kommen alle Kleider aus dem Rucksack. Der Wind pfeift, geschützte Plätze sind rar.
Über den Rückweg gibt es nichts zu diskutieren, er folgt der Aufstiegsspur und geht wie im Flug. Die vielen Hänge hinunter zu sausen ist ein Gaudi, der Säntis schaut von ferne zu. Mit Riesenschritten soll der Sage nach auch der Riese unterwegs gewesen sein, auf den das Toggenburg zurückgeht. Im gefiel es zwar im Tal, doch er vermisste Gesellschaft. Eine Stadt müsste her, dachte er, damit sich Menschen bei ihm niederliessen. Zwei Schritte brachten ihn zu seinen Freunden, den Zwergen im Montafon. Sie rüsteten ihn mit Häusern, Ställen, Fuhrwerken und Zäunen aus und packten alles in einen grossen Sack.
Doch just wie der Riese beim Säntis um die Ecke bog, riss sein Sack auf und die Fracht wirbelte durchs Tal. Der Riese erschrak und wollte sich gleich ans Aufräumen machen. Er war aber zu müde und legte sich eine Weile hin. Als er viele Jahre später aufwachte, war zu seiner Verwunderung Leben im Tal eingekehrt. Die Menschen schienen sich in seinem Durcheinander wohl zu fühlen. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Die Häuser und Ställe im Toggenburg sind über das ganze Tal verstreut. Und der Riese schläft zufrieden am Fusse des Säntis, längst von Moos und Bäumen überwachsen.
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