Soziales Lernen bei VögelnSchlaue Kohlmeisen gucken voneinander ab
Die zutraulichen Vögel haben sich an das Leben in der Nähe von Menschen angepasst. Sie wissen, wie sie neue Nahrungsquellen finden – und fressen auch mal Zwergfledermäuse.

Wo sind eigentlich die Kohlmeisen, die verlässlich in unserem Vogelkasten gebrütet haben? Im letzten Jahr um diese Zeit war der Balkon längst zur Einflugschneise geworden. Erst hatte das Meisenpärchen im März ein Nest gebaut, und dann schafften Männchen und Weibchen unermüdlich Spinnen und Insekten, dann Larven und Schmetterlingsraupen heran. Immer wenn sie sich dem Vogelkasten näherten, piepsten die Kleinen in höchsten Tönen.
Kohlmeisen haben sich gut an das Leben in der Nähe der Menschen angepasst. Sie sind erfinderisch, wenn es darum geht, neue Nahrungsquellen zu erschliessen. Legendär ist das Verhalten ihrer Verwandten, der Blaumeisen, das diese in den 1920er-Jahren in einer Kleinstadt in Südengland erstmals zeigten. Dort begann ein Vogel, mit seinem Schnabel die Folie der Milchflaschen, die damals noch vor den Türen standen, aufzuschlitzen. Er labte sich am Rahm unter den Deckeln. Dieses Verhalten breitete sich binnen 20 Jahren in ganz Grossbritannien aus – auch bei Kohlmeisen.
Es war offensichtlich, dass die Singvögel die Methode voneinander abgeschaut hatten, was Fachleute als soziales Lernen bezeichnen.
Ungewöhnliche Jagd in einer Höhle in Ungarn
Auch in der Natur sind Meisen überraschend einfallsreich, vor allem im Winter, wenn die Nahrung knapp ist. So entdeckten Ornithologen vor Jahren, dass Kohlmeisen in einer Höhle in Ungarn Jagd auf Zwergfledermäuse machten. Dieses aussergewöhnliche Verhalten gaben die dort heimischen Vögel über Generationen weiter.
Kohlmeisen gucken aber nicht nur von den Artgenossen ab, wo es was zu fressen gibt, sondern auch, wenn etwas nicht schmeckt. Ein Vorteil, denn schliesslich ist manch ein Insekt ungeniessbar. Dieses Verhalten untersuchte ein Team von Forscherinnen vor wenigen Jahren. «Wir wollten wissen, wie sich in der Evolution entwickelt hat, dass zum Beispiel Wespen nicht gefressen werden, weil sie Warnfarben tragen», sagt Hanna Kokko von der Universität Zürich, eine der Autorinnen der Studie, die im Journal «Nature Ecology und Evolution» erschienen ist.
«Wenn jeder Vogel nur lernt, indem er eine Wespe frisst, hat das Insekt keinen Vorteil von der Warnfarbe.»
«Die Wespen weisen darauf hin, dass sie gefährlich sind», sagt Kokko. «Aber wenn das jeder Vogel nur lernt, indem er die Wespe frisst, hat das Insekt keinen Vorteil von der Warnfarbe.»
In den Experimenten präsentierten die Wissenschaftlerinnen den Kohlmeisen Mandelsplitter. Die Vögel pickten die Leckerbissen aus kleinen weissen Papiersäcken. Einige Verpackungen zierte jedoch ein schwarzes Muster, und die darin enthaltenen Mandelstückchen waren mit einem bitteren Pulver präpariert.
Prompt spuckten die Vögel die Kost aus und putzten sich danach den Schnabel. Diese Reaktion filmten die Wissenschaftlerinnen und präsentierten das Video 15 Meisen. Der Erfolg war verblüffend: Die meisten der 15 Vögel rührten fortan die schwarz gemusterten Säckchen nicht an. Als Kontrollgruppe dienten Meisen, die den Film nicht gesehen hatten – sie pickten fröhlich zu.
Ungesunde Kost für Küken
Demnach lernen Kohlmeisen schnell aus den schlechten Erfahrungen ihrer Artgenossen – ohne die Erfahrung selber machen zu müssen.

Allerdings scheinen Kohlmeiseneltern nicht davor gefeit zu sein, dem Nachwuchs ungesunde Kost zu füttern, wenn sie leicht erreichbar ist. Das könnte im vorletzten Jahr auf unserem Balkon passiert sein. Dort hingen noch Meisenknödel vom Winter, mit dem das Vogelpaar wohl seine Brut versorgte. «Aber fettreiche Kost ist nichts für kleine Meisen», warnt Hanna Kokko. Die Küken benötigen die Proteine aus der Insekten- und Maden-Kost. Tatsächlich lagen am Ende der Brutzeit drei Junge tot im Nest.
Also weg mit den Meisenknödeln. «Am meisten profitieren Vögel sowieso von einem naturfreundlichen Garten, wo auch Insekten leben», sagt Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Lediglich bei Dauerfrost, Eisregen oder geschlossener Schneedecke könne eine Fütterung eine Überlebenshilfe für Vögel sein.
15’000 Flüge, um die Kleinen zu füttern
«Wenn die Küken sieben bis zehn Tage alt sind, dann wachsen sie am schnellsten – und sind entsprechend am hungrigsten», sagt Kokko. «Dann kommen die Eltern einmal pro Minute mit zwei bis drei Insekten oder Larven im Schnabel.» Die Biologin hat hochgerechnet, dass während der 15-stündigen Fütterung an etwa 25 Tagen das Paar insgesamt 15’000-mal hin- und herfliegt (wenn man annimmt, dass die Meisen durchschnittlich alle 90 Sekunden füttern).
Da ist es nötig, schnell Nahrung zu finden. Meisen lernen nicht nur von ihren Artgenossen, sie entwickeln das abgeschaute Verhalten auch weiter. Dabei waren Zuzügler, die in eine bestehende Meisengruppe kamen, erfolgreicher. Das zeigten kürzlich Ornithologen vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und der Universität Konstanz. Die Studie ist in der Fachzeitschrift «Current Biology» erschienen.
Die Ornithologen hatten Meisen so trainiert, dass die Vögel in der Lage waren, aus einer speziellen Futterbox an Nahrung zu kommen. Dabei gab es verschiedene Möglichkeiten, an die Kost zu gelangen. Die Forscher hatten den Vögeln eine umständliche Methode beigebracht. Das Team untersuchte nun, wann die gefiederten Studienteilnehmer selbst auf die effizientere Variante kamen. Dazu tauschten sie in den Testgruppen jeweils zwei Vögel mit aus dem Wald eingefangenen Kohlmeisen aus.
Das Ergebnis: In den Gruppen mit den neu hinzugekommenen Vögeln stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sie die bessere Methode nutzten, um an die Maden in der Futterbox zu kommen.

Wo sind nun aber unsere Meisen in diesem Jahr? Sie sollten längst da sein, bestätigt Livio Rey. Zumal die Kohlmeisen – wenn überhaupt – nur kurze Strecken ziehen. «Sie sind gut an unseren Winter angepasst», sagt Rey. «Es könnte sein, dass das Weibchen oder Männchen gestorben ist.» Dann bilden die Vögel neue Paare.
Jetzt warten wir also darauf, dass ein neues Meisenpaar den Brutkasten auf unserem Balkon entdeckt. Wir hoffen darauf – wie im letzten Jahr –, erneut zuschauen zu können, wie ein verstrubbeltes Küken nach dem anderen mutig aus dem Loch des Vogelkastens hopst. Es waren sechs an der Zahl, die mehr oder minder geschickt die ersten Flügelschläge taten. Eines von ihnen sass noch stundenlang im Blumenkasten und liess sich dort von den Eltern füttern.
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