Höchstwerte an Corona-NeuinfektionenSchweizer Hilfsgüter in Indien angekommen – beim Zoll hapert es
Indien hat sich seit Anfang April zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie entwickelt. Nun ist ein Frachtflugzeug der Swiss ist am Freitagmorgen in Delhi gelandet. Probleme bei der Zollabfertigung verzögern indes Hilfsaktionen – und kosteten bereits Menschenleben.

Ein Flugzeug der Swiss mit 13 Tonnen medizinischen Corona-Hilfsgütern ist am Freitag in Delhi angekommen. Der vom Flughafen Zürich und von Nestlé übernommene Transport brachte dringend benötigte Sauerstoffkonzentratoren, Beatmungsgeräte und andere medizinische Hilfsgüter ins von der Pandemie arg gebeutelte Land.
Seit Tagen erfasst Indien immer wieder weltweite Höchstwerte an Corona-Neuinfektionen. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer noch deutlich über den offiziellen Statistiken liegt. Allein in den letzten 24 Stunden wurden 414’188 Neuinfektionen gemeldet. Täglich werden es Tausende mehr.
Menschen sterben vor überfüllten Spitälern oder auf dem Weg dorthin, und auch die Krematorien sind überfüllt. Lockdowns in mehreren Bundesstaaten haben es bislang nicht geschafft, die Infektionswelle in dem mit mehr als 1,3 Milliarden Menschen riesigen Land zu brechen.
Tote wegen ausgegangenen Sauerstoffs
Angesichts der vielen Kranken in den Spitälern geht immer wieder der medizinische Sauerstoff aus. Fast vierzig Todesfälle in mehreren Spitälern der Landeshauptstadt sind auf die anhaltende Sauerstoffkrise zurückzuführen. Zwölf Menschen starben am Samstag im Batra-Krankenhaus, als lange 80 Minuten kein Sauerstoff mehr zur Verfügung stand. Zurückzuführen sei dies nicht zuletzt auf eine schwerfällige indische Bürokratie, kritisieren sowohl in- als auch ausländische Medien.

Insgesamt verschickten in den letzten Tagen mehr als 40 Länder Hunderte von Tonnen Material nach Indien. Die Zollabfertigung scheint laut Medienberichten mit der Bewältigung nicht nachzukommen, weshalb viele der lebensrettenden Hilfsgüter, wie die vom Bund gesendeten Beatmungsgeräte, die in der Schweiz nicht mehr benötigt werden, erst mal im Flughafen von Delhi stecken geblieben sind.
Zollabfertigung ein Fall fürs Gericht
Diese untragbare Situation für Notleidende, Angehörige und Helfende rief auch die indische Justiz auf den Plan. Der oberste Gerichtshof von Delhi wollte von der zuständigen Behörde Einzelheiten zu den noch nicht vom Zoll freigegebenen Sauerstoffkonzentratoren – insbesondere, wie viele davon beim Zoll rumlägen. Zur Antwort bekam der Gerichtshof, dass es sich dabei um eine dynamische Zahl handle; gemäss eigenen Vorschriften schliesse das Zollamt einen Freigabeprozess innert drei Stunden ab. Auf die Frage, ob die Zollbehörde denn damit in Rückstand sei, hiess es, man sei sich nicht sicher, aber man habe bisher 48’000 Lieferungen abfertigen können.
Die Antwort passte dem Gerichtshof allerdings nicht, sodass das Central Board of Indirect Taxes and Customs (CBIC) später per Twitter präzisierte, dass keine Lieferungen mehr bei den Zollbehörden hängig seien. Das CBIC sah sich auch gezwungen, auf die in den sozialen Medien kursierende Meldung, wonach 3000 Sauerstoffkonzentratoren beim Zoll lägen, zu reagieren: Man habe das überprüft und keine solche Lieferung entdeckt.
Mit jedem Tag, an dem die Hilfsgüter nicht an die Spitäler in den stark betroffenen Regionen weitergeliefert werden können, wird im Kampf gegen die Pandemie wertvolle Zeit verschwendet. Der Gerichtshof ordnete deshalb an, das Delhi, «mit welchen Mitteln auch immer», die volle Quote an medizinischem Sauerstoff erhalten müsse. Die landesweite Verteilung der Hilfsgüter wird durch das indische Rote Kreuz sichergestellt.
Rufe nach Lockdown – auch aus den USA
Die Zahl der täglichen Todesfälle in Indien blieb den zehnten Tag in Folge über 3000: Am Freitag waren es 3915. Seit Beginn der Pandemie starben nach amtlichen Angaben 234’083 Menschen mit dem Virus. Experten sagen, die tatsächlichen Zahlen seien noch viel höher.
Im April hatten fast ein Dutzend der 28 indischen Unionsstaaten Corona-Restriktionen gelockert. Premierminister Narendra Modi hatte die Bekämpfung der Pandemie den einzelnen Staatsregierungen überlassen, deren Gesundheitswesen allerdings unzureichend für eine Pandemie ausgestattet ist. Angesichts der dramatisch steigenden Zahlen fordern Opposition, höchste Richter und Gesundheitsexperten einen völligen Lockdown auf dem Subkontinent mit 1,4 Milliarden Menschen wie im März 2020.

Oppositionsführer Rahul Gandhi wiederholte in einem am Freitag veröffentlichten Brief an Modi seine Forderung nach einem harten Lockdown. Die Regierung solle die Sorgen um die wirtschaftlichen Folgen hintanstellen und Finanz- und Lebensmittelhilfen für die Armen bereitstellen. Sonst drohten «noch tragischere Konsequenzen für unser Volk».
Der medizinische Berater von US-Präsident Joe Biden, Anthony Fauci, sagte, Indien müsste vermutlich in einen zwei- bis vierwöchigen Lockdown gehen, um die Infektionswelle einzudämmen. Dem indischen Fernsehsender CNN News 18 sagte Fauci, in Indien zirkulierten mindestens zwei Coronavirusvarianten. Die zuerst in Grossbritannien festgestellte Variante B.1.1.7 sei überwiegend auf Delhi konzentriert und die Variante 617 im am härtesten betroffenen Unionsland Maharashtra. Beide seien ansteckender als der zuerst in China vor einem Jahr aufgetretene Wuhan-Stamm.
nag
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