Rücktritt von Justin GatlinDer Bösewicht hat genug
Zweimal wurde der US-Sprinter gesperrt, er ist eine der kontroversesten Figuren der Leichtathletik. Ein Geächteter und Outlaw. Jetzt hört er mit 40 auf.

Die Geste ist vergeblich: Justin Gatlin legt den Zeigefinger auf seinen Mund und fordert das Publikum auf zu schweigen. Leichtathletik-WM 2017 im Londoner Olympiastadion: Eben hat der 100-m-Final stattgefunden, das prestigeträchtigste Rennen – und es hat nach Meinung des Publikums der Falsche triumphiert. Es ist das Abschiedsrennen von Superstar und Weltrekordhalter Usain Bolt, doch der Jamaikaner kommt nicht auf Touren und wird nur Dritter. Es siegt der 35-jährige Amerikaner Gatlin, der schon vor dem Start ausgebuht wird und auch, als er als Weltmeister feststeht. Beruhigen kann er die Zuschauer nicht mit seiner Geste: Gatlin hat zweimal eine Dopingsperre abgesessen und ist zum Schreckgespenst der Leichtathletik geworden.
Nun ist er zurückgetreten, mit 40 Jahren und nach einer Karriere, in der er 15 Olympia- und WM-Medaillen gewonnen hatte. Eugene im Juli wird die erste WM seit 2009 sein ohne ihn. Er ist eine der meistdekorierten, aber auch eine der kontroversesten Figuren in diesem Sport. Mit einem Gedicht mit dem Titel «Dear Track», «Liebe Bahn», hat er seinen Rückzug auf Instagram bekannt gegeben.
Die Szene in London ist nur eine von ganz vielen im Laufe des vergangenen Jahrzehnts, in denen Gatlin gegen sein Bösewicht-Image und seine Vergangenheit angekämpft hatte. Als ihm mit 19 der Missbrauch eines Amphetamins nachgewiesen wurde, führte er an, seit Jahren ein Medikament gegen ein Aufmerksamkeitsdefizit einzunehmen. Der Weltverband anerkannte das, die zweijährige Sperre wurde um ein Jahr reduziert, und die US-Antidoping-Behörde hielt in ihrer Untersuchung fest, es habe keine Absicht bestanden, zu betrügen.
Und dann geschah 2006 das, was seine ganze Karriere prägte: Gatlin wurde zu viel Testosteron nachgewiesen. Zuvor war er durchgestartet: 2004 Olympiasieger mit 24, ein Jahr später das WM-Double 100/200 m, 2006 die Egalisierung des Weltrekords von 9,77 Sekunden. Und dann der positive Test, der die Annullierung dieser Bestmarke zur Folge hatte. Es drohte ein achtjähriger Bann, was wohl dem Karriereende gleichgekommen wäre. Doch als «Wiederholungstäter» galt Gatlin aufgrund der speziellen Umstände seines Vergehens als Junior nicht. Der Ausschluss wurde halbiert, aber eine vierjährige Sperre in einer jungen Karriere ist auch nicht nichts.
Er hat sich und seine Absichten nicht aufgegeben, kehrt 2010 zurück und wird stärker denn je.
Er versuchte sich in dieser Zeit als Footballer, Probetrainings bei zwei NFL-Franchisen führten jedoch zu nichts. Und als ihn 2008 ein junger Jamaikaner als Olympiasieger ablöste und dieser Usain Bolt ein Jahr später in Berlin zu seinen Fabel-Weltrekorden sprintete, war Gatlin vergessen. Zumindest in der Öffentlichkeit. Doch er hatte sich und seine Absicht nicht aufgegeben, er kam 2010 zurück – wurde stärker denn je und gewann 2012 schon wieder Olympiabronze.
Dieses Comeback nach vier Jahren, der Umstand, dass er nun als 30-Jähriger und nach so langer Absenz wieder zu den Schnellsten gehörte, trug mindestens so viel zu seinem Bösewicht-Image bei wie die beiden Doping-Affären. Die grossen europäischen Meetings vermieden es zu dieser Zeit, ihn zu verpflichten, später durfte er zwar an manchen Orten starten, wurde aber nicht für Promotionszwecke eingesetzt.

Wie sehr der Weltverband zu dieser Zeit um das Ansehen der Leichtathletik kämpfte, beschrieb das US-Portal «Let’s Run» anhand von Aussagen prominenter Exponenten. Auf der einen Seite hatte man in Bolt die scheinbare Lichtgestalt gefunden, welche die ganze Sportart auf ihren breiten Schultern stemmen sollte. Auf der anderen Seite war da der längst zum Paria gewordene Justin Gatlin, der sich zum härtesten Konkurrenten Bolts hochgeschwungen hatte.
«Der Sport braucht Usain Bolt aus verschiedenen Gründen als Sieger.»
Nachdem Gatlin im Mai 2015 in Doha in 9,74 mit einer Zeit gestoppt worden war, die zuvor mit 33 Jahren noch nie jemand gelaufen war, sagte Weltverbandspräsident Sebastian Coe vor dem Showdown an der WM in Peking zu BBC: «Der Sport braucht Usain Bolt aus verschiedenen Gründen als Sieger.» Als der Jamaikaner mit einer Hundertstelsekunde Vorsprung auf Gatlin Gold gewann, schrie der BBC-Kommentator: «Er hat seinen Titel verteidigt! Er hat seinen Ruf gerettet! Er hat vielleicht sogar seine Sportart gerettet!»

2017 gelang das Bolt nicht mehr. Gatlin zeigte, was das Publikum nicht hat sehen wollen. Und am Ende seiner langen Karriere sollte der Amerikaner immerhin eingestehen, dass er wenig dazu beigetragen hatte, das Bild des Schreckgespensts zu zerzausen. Gatlins erster Trainer in seiner Profi-Ära war Trevor Graham, der bereits sechs positiv getestete Athleten hatte, als 2006 auch er hängen blieb. Und als sich sein Comeback vielversprechend anliess, schloss er sich 2012 Dennis Mitchell an, der 1998 selber mit einem zu hohen Testosteronwert aufgefallen war.
Hinter Bolt, Tyson Gay, Yohan Blake und Asafa Powell ist Gatlin der fünftschnellste Mann der Geschichte. Sein Erbe aber ist von Zweifeln behaftet. Auch, weil er nie klar Stellung bezog zu seinen Affären, wie das andere mit einem späteren Geständnis taten. «Dear Track», dieses Gedicht zum Abschied – es unterstreicht nur seine Liebe zur Leichtathletik. Sonst nichts.
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