Streit um lebenserhaltende MassnahmenSie will ihren hirntoten Sohn nicht sterben lassen
Der zwölfjährige Archie Battersbee liegt seit einer Tiktok-Challenge im Koma. Seine Mutter Hollie Dance kämpft gegen Ärzte und Gerichte, die ihn nicht länger am Leben halten wollen.

Eigentlich sollte Archie Battersbee seit Montag tot sein. Um 15 Uhr hätte ihn das Pflegeteam am Royal London Hospital vom Beatmungsgerät und den Infusionen trennen sollten und seine Eltern hätten an seinem Bett warten dürfen, bis er seinen letzten Atemzug macht.
So hatte es das Londoner Berufungsgericht Ende Juli final entschieden. «Wir verstehen, dass alle Debatten um das Ende von Archies Behandlung sehr schwierig und schmerzhaft sind», hiess es im Brief des Spitals, den seine Eltern am Samstag erhalten haben. Aber es sei das Ziel, die Würde des Jungen zu bewahren.
«Solange Archie lebt, werde ich ihn niemals aufgeben.»
Aber Archie lebt noch immer. Eine Last-Minute-Gerichtsanhörung am Montag verhinderte, dass die lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt werden. Seine Mama Hollie Dance hatte erwirken können, dass sich der UNO-Ausschuss für Rechte von Menschen mit Behinderungen in den Fall einklinkt. Dieser wollte sich ein eigenes Bild machen und verlangte, dass der Entscheid bis dahin sistiert wird. Der Antrag wurde am Montagabend zwar abgelehnt, aber Hollie Dance kämpft weiter.
«Solange Archie lebt, werde ich ihn niemals aufgeben.» Sie glaube nicht, dass die Planung von Archies Tod etwas Würdevolles an sich habe, und fragte: «Warum die Eile? Weshalb sind das Spital und die Gerichte so daran interessiert, dies so schnell wie möglich durchzusetzen?»
Video soll beweisen, dass Archie atmet
Gemeinsam mit Archies Vater, von dem sie getrennt lebt, tut Hollie Dance alles dafür, dass ihr Sohn weiterleben darf. Nachdem sich der High Court bereits Mitte Juli dafür ausgesprochen hatte, dass man Archie sterben lassen soll, erhob sie Einspruch beim Londoner Berufungsgericht. Als dieses nicht in ihrem Sinne entschied, gelangte sie an den UNO-Ausschuss und am Dienstag an den Supreme Court.
Sie ist fest davon überzeugt, dass die Ärztinnen und Ärzte falschliegen, wenn sie sagen, dass ihr Sohn hirntot und nicht mehr lebensfähig sei. Vergangene Woche veröffentlichte sie ein Video, das beweisen soll, dass ihr Junge selbstständig atmet. Darauf sind Diagramme auf einem Monitor zu sehen, im Hintergrund sind Atemgeräusche zu hören. Ein andermal filmte sie seine Hand, die ihre gedrückt habe. «Ein Junge, der meine Hand drücken kann, ist nicht hirntot», ist die 46-Jährige überzeugt.
Wurde ihm eine Tiktok-Challenge zum Verhängnis?
Sie war es, die Archie am 7. April bewusstlos und mit einer Schlinge um den Hals zu Hause auffand. Niemand weiss genau, was passiert ist. Aber vieles deutet darauf hin, dass er an der sogenannten Blackout Challenge teilgenommen hat. Bei diesem Tiktok-Trend geht es darum, sich selbst so lange zu würgen, bis man ohnmächtig wird. Das Ganze wird dann auf Video festgehalten und später auf die Plattform hochgeladen. Vermutlich hat sich Archie damit unbeabsichtigt irreparable Hirnschäden zugefügt.
Seither liegt er im Royal London Hospital. «Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit, zu verarbeiten, was mit Archie passiert ist, wie ich Archie gefunden habe, weil ich wirklich seit dem ersten Tag um das Leben meines Kindes kämpfe», sagte die sichtlich erschöpfte Hollie Dance am Dienstag in einem TV-Interview.
Sie hat den schlimmen Verdacht, dass man Archies Maschinen zu früh abschaltet, um Geld zu sparen. Und das ist nicht komplett unbegründet. Dass der Junge weiter auf Kosten des Staates am Leben erhalten wird, nachdem Gutachten ihn für hirntot erklärt haben, ist nicht im Sinne des maroden britischen Gesundheitssystems NHS.
Hollie Dance ist überzeugt, dass sich Archies Zustand über die Monate verbessert habe, dass sein Herzschlag und sein Blutdruck stabil seien, dass er ihre Hand gedrückt habe, bis sie rot gewesen sei, dass er seine Augen geöffnet habe. Aber sie befürchtet, dass sie ihren Kampf verlieren wird. «Wir sind in der Endphase. Er hat nicht genug Zeit bekommen.»
Dass Archies Maschinen endgültig abgeschaltet werden, wird immer wahrscheinlicher. Trotzdem hat sie ihre Hoffnung noch nicht aufgegeben. Denn auch der zweite Termin, den das Berufungsgericht auf Dienstagmittag angesetzt hatte, ist verstrichen: Nur wenige Minuten nachdem seine lebenserhaltenden Maschinen hätten abgeschaltet werden sollen, bestätigte der Supreme Court, dass ein weiteres Mal Berufung eingelegt worden sei.
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