Mamablog: Sexualität mit Behinderung«Statt Frauen unbemerkt die Pille unterzujubeln, sollte man sie miteinbeziehen»
Nina Mühlemann und Suna Kircali von der Interessengemeinschaft Avanti-Donne sagen, warum wir die Sexualität behinderter Frauen und Mädchen nicht tabuisieren sollten.

Die Interessensvertretung «Avanti-Donne» setzt sich für die Gleichstellung und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen und Mädchen ein, die mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit leben. Das Schweizer Netzwerk feierte ihr Jubiläum: Es wurde vor 20 Jahren von Aktivistinnen der Behindertenbewegung gegründet. Mit dem Projekt «Ganz Frau» lädt der Verein dazu ein, sich mit dem Thema weibliche Sexualität, Liebe und Behinderung auseinanderzusetzen. Unsere Autorin hat die Präsidentin Nina Mühlemann und die Co-Geschäftsleitung Suna Kircali zum Gespräch getroffen.
In der Schweiz leben gemäss Avanti-Donne rund eine Million Frauen* und Mädchen mit Behinderungen. Warum ist das Thema weibliche Sexualität mit Behinderung dennoch so ein Tabu?
Nina Mühlemann: In unserer Gesellschaft herrscht immer noch oft die Annahme, Frauen hätten generell kein grosses Interesse an Sex. Hat die Frau eine Behinderung, kommen noch viel mehr Vorurteile dazu. Zum Beispiel, dass Sexualität und Behinderung grundsätzlich etwas Problematisches sind. Was sicherlich auch eine Rolle spielt: Frauen gelten in unserer Gesellschaft immer noch als «Objekte der Begierde», Menschen mit Behinderung hingegen als «nicht begehrenswert».
Hat sich das in den letzten Jahren nicht verändert?
Suna Kircali: Vor dreissig oder vierzig Jahren war die Tabuisierung sicherlich stärker. Damals sprach man Menschen mit Behinderung kaum eine Geschlechtsidentität zu, sie galten als eine Art asexuelle Wesen. Das Thema Sexualität wird heute offener diskutiert und ist viel präsenter, etwa in den sozialen Medien.
Aber?
Mühlemann: Es fehlt an Selbstverständlichkeit. Stattdessen findet eine Ausklammerung oder eine Sensationsshow statt.
Kircali: Im Sinne von: «Wow, wie krass, sogar eine Frau mit Behinderung hat ein Sexualleben.» Wir wünschen uns hingegen eine Normalisierung.
Es gibt in den sozialen Medien die Bewegungen «Normalize Normal Bodies» oder «Body Positivity», die sich für die Abschaffung von unrealistischen Körperbildern einsetzt. Seither sehen wir auch mehr Bilder von Frauen mit Behinderungen. Am meisten «Likes» erhalten aber oft Frauen mit Behinderungen, die wiederum am ehesten dem Schönheitsideal entsprechen.
Kircali: In den sozialen Medien geht es immer darum, was von aussen kommt. Wie sehen und bewerten mich die anderen Menschen? Wie viele «Likes» geben sie mir? Doch Schönheit, sexuelle Anziehung und Attraktivität ist nicht per se etwas, was nur von aussen zu erkennen ist. Der inneren Schönheit mehr Beachtung zu geben, ist unter anderem ein Anliegen des Projekts «Ganz-Frau». Und Frauen sollen ihre eigene Sexualität und ihren Körper kennenlernen und selbst darüber bestimmen können.
Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Verhütung, Schwangerschaft und Behinderung.
Mühlemann: Als Mutter im Rollstuhl erlebe ich täglich, wie mir Mutterschaft und Elternqualitäten abgesprochen werden. Wenn ich zum Beispiel mit einer anderen Frau unterwegs bin, nehmen die Menschen an, sie sei die Mutter und nicht ich. Es gibt viele Stigma und Vorurteile in Bezug auf Elternschaft und Behinderung.
«Die UNO empfiehlt der Schweiz, die Zwangssterilisation zu verbieten.»
In der Schweizer Geschichte gab es viele Zwangssterilisationen bei Frauen mit Behinderungen. Wie ist die Situation heute?
Kircali: Bedauerlich. In der Schweiz können Menschen ab 16 Jahren, die als nicht urteilsfähig gelten, immer noch zwangssterilisiert werden. Es startete gerade eine Petition, damit das Gesetz endlich angepasst wird. Die UNO hat die Schweiz im März 2022 auf die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen geprüft und empfiehlt, die Zwangssterilisationen zu verbieten.
Warum ist das bisher noch nicht geschehen?
Mühlemann: Weil Behörden, Eltern oder Ärzte und Ärztinnen viel zu häufig davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen nicht selbst entscheiden können. Sie nehmen sie immer noch als hilflose Wesen und nicht als selbstbestimmte Menschen wahr. Die Frage sollte doch viel mehr lauten: Warum soll es für Menschen mit Behinderungen unmöglich sein, Eltern zu werden? Was braucht es für Hilfsangebote und Unterstützung, damit es möglich ist. Wir stehen in diesen Diskussionen aber erst ganz am Anfang.
Wie können Eltern von Kindern mit Behinderung das Thema Schwangerschaftsverhütung angehen?
Mühlemann: Eltern sollten möglichst früh über Verhütung sprechen und die Jugendlichen über die verschiedenen Verhütungsmittel aufklären. Dabei ist es wichtig, die Anwendung auf eine verständliche Ebene zu bringen und sie üben zu lassen. Statt den Mädchen unbemerkt die Pille unterzujubeln, sollten sie in die Entscheidung miteinbezogen werden. Es braucht Angebote, wo sich junge Menschen mit Behinderung mit Verhütung und Sexualität auseinandersetzen können. Verhütung beinhaltet nämlich auch die Frage: Welche sexuellen Handlungen führen zu keiner Schwangerschaft? Es gibt viele Alternativen.
«Mädchen und Frauen mit Behinderung sind doppelt so oft von sexualisierter Gewalt betroffen wie nicht behinderte Frauen.»
Junge, nicht behinderte Menschen besuchen den Aufklärungsunterricht in der Schule oder haben Zugang zum Beispiel zu Workshops in Jugendtreffs. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind solche Angebote rar.
Mühlemann: Alle Dienste und Organisationen müssen das Thema Behinderung mehr mitdenken und mehr Angebote schaffen. Das beginnt in der Kita und der Schule und geht über Freizeitorganisationen bis hin zu Beratungsstellen. Sogar Frauenhäuser denken Frauen mit Behinderungen oft nicht mit. Dabei sind Mädchen und Frauen mit Behinderung doppelt so oft von sexualisierter Gewalt betroffen wie nicht behinderte Frauen.
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Wie können Eltern ihre Kinder vor Übergriffen schützen?
Kircali: Ich stelle immer wieder fest, wie sehr es vor allem Müttern am Herzen liegt, die Prävention von sexualisierter Gewalt anzugehen. Eltern können sicherlich einiges tun. Zum Beispiel die Kinder über ihren Körper aufklären und mit ihnen üben, Grenzen zu setzen. Ebenso wichtig ist aber auch ein Distanzverhältnis zwischen Eltern und Kindern.
Warum?
Mühlemann: Sexualisierte Gewalt findet sehr oft in der eigenen Familie und in häuslichen Institutionen statt. Die Täterschaft sind oft enge Bezugspersonen. Es braucht deshalb eine gesamtgesellschaftliche Prävention und Angebote ausserhalb der Familie, die allen offenstehen. Auch den Täterinnen und Tätern.
Kircali: Immer wieder kommt es auch in Institutionen zu Missbrauch und Gewalt bis hin zu Tötungen. Heimmitarbeitende, Pflegende und auch Beistände sollten deshalb noch stärker sensibilisiert und geschult werden. Es braucht ein wachsames Umfeld, in dem übergriffige Personen nicht geschützt werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass übergriffige Personen bei den Institutionen gemeldet werden. Sonst können sie einfach an einem neuen Ort weiterarbeiten und dort erneut Missbrauch betreiben.
* Frau wird in diesem Text als Synonym für FINTA verwendet. Das ist eine Abkürzung für Frauen, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und Agender Menschen.
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