«Sein wie Jesus, fertig, Punkt»
Pfarrer Ernst Sieber wird heute 90 Jahre alt. Er sei bereit für den Moment, wenn der «Chef» ihn nach Hause holt. Aber vorher will er noch sein grösstes Projekt realisieren.
«So ein gutes Knechtli wie den Ernst werde ich wohl nie mehr bekommen», hat der Meister gesagt, ein Bauer aus Hirzel, damals während des Zweiten Weltkriegs, nach getaner Arbeit im Wirtshaus. Aus dem Sihltaler Burschen Ernst sollte später der wohl bekannteste reformierte Pfarrer des Landes werden. Doch ein Knecht ist Pfarrer Sieber immer geblieben – bis heute, seinem 90. Geburtstag und weiterhin denkt er nicht daran, seine «Brüder und Schwestern und Freunde» allein zu lassen.
«Bis zum letzten Atemzug werde ich chrampfen», sagt er. Und wie er so dasitzt und munter in Bibelversen konversiert, kann man sich kaum vorstellen, dass «der Chef» ihn so bald zu sich holt, 90 Jahre hin oder her.
«Bis zum letzten Atemzug werde ich chrampfen»
Um die Beine streicht ihm Leila, eine griechische Hündin, hinterlassen von Django, einem Freund von der Schattenseite. Django, der vor vier Jahren an Krebs gestorben ist, war «der Meister in der Szene auf dem Platzspitz». Jetzt ist Leila halt hier. Als «bissiger, gefährlicher Hund» sei sie im Polizeibericht beschrieben gewesen, und jetzt schau sie dir an, ein Engel ist sie, diese Leila.
Kein Mann der leeren Worte
Pfarrer Siebers Reihenhaus in Uitikon ist von oben bis unten vollgestopft mit Erinnerungen an ein aussergewöhnliches Leben. Da türmen sich Einkaufstaschen und Kartonschachteln voll Papierkram, auf einem Hocker liegt die Bibel aus dem 16. Jahrhundert, die Sieber als «Büebel» aus dem Altpapierkorb gefischt hatte. An den Wänden hängen Bilder mit meist religiösen Motiven, die Sieber in einem alten Bienenhaus im tiefen Sihltal gemalt hat.
Zu den herumstehenden Krippenfiguren gesellen sich Bronze- und Tonskulpturen, die der Pfarrer selbst gemacht hat. Eine vor Jahren gefertigte hat er aus aktuellem Anlass wieder hervorgekramt: Den Zwingli, wie er auch vor der Wasserkirche thront, doch bei Sieber hält der grosse Zürcher Reformator nicht mehr nur ein Schwert, sondern auf der Rückseite auch einen Pflug. «Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spiesse zu Sicheln machen ... und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen», zitiert Sieber mit erhobenem Zeigefinger und eindringlichem Blick.
Fragen beantwortet Sieber gerne mit Bibelversen, auch seine berühmten Anekdoten schliesst er oft mit einem ab, als wolle er sicherstellen, dass man sie auch richtig verstanden hat. Sieber ist ein Mann des Wortes, das hat ihn schon als junger Pfarrer zur Ausnahmeerscheinung gemacht. Doch damit ist es nicht getan: Dem Wort müssen Taten folgen.
Wie damals, bei seiner ersten Predigt in Uitikon, wo er von 1956 bis 1967 als Dorfpfarrer amtete. Es gab einen Krach im Dorf, irgendwas mit Landstreitigkeiten, näher will Sieber nicht darauf eingehen, nicht an geheilten Wunden kratzen. Auf jeden Fall seien bei seiner ersten Predigt «drei, vier Leute» in der Kirche gewesen, und mittendrin sei eine Frau plötzlich herausgestürzt; just, als Sieber zur Versöhnlichkeit aufrief, wofür er das Bild der «feurigen Kohlen auf dem Haupt des Feindes» verwendete. Am nächsten Tag sollte die Frau ihm freudestrahlend dafür danken, dass er sie an ihr Bügeleisen erinnert habe, das zu Hause noch vor sich hinbrannte.
Randständig sind doch alle
«Das Wort muss im Alltag Leben werden», sagt Sieber, auch wenn es nur um Bügeleisen geht. Besser kennt man seine praxisorientierte Einstellung zum Glauben vom Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft – oder den «Brüdern und Schwestern auf der Schattenseite», wie er sie nennt, denn «randständig», das seien wir doch alle irgendwie. Er könne als Nächstenliebe predigender Pfarrer nicht ein dickes Zmittag verdrücken, während ein anderer neben ihm Hunger leide, sagt er. «Die messen mich daran, ob ich ehrlich bin. Mir helfen die Ärmsten, wahr zu sein.»
«Mir helfen die Ärmsten, wahr zu sein. Sie messen mich daran ob ich ehrlich bin.»
Als Helfer der Ärmsten ist Pfarrer Sieber über die Grenzen seiner Kirchgemeinschaften berühmt geworden. Begonnen hat sein medienwirksames Engagement im Winter der Seegfrörni von 1963, als er in der Stadt Zürich den Obdachlosenbunker unter dem Helvetiaplatz einrichtete. Eine Baubewilligung hatte er dafür nicht, doch die Behörden hätten ihn eigentlich immer in Ruhe gelassen, auch später, als er während Platzspitz- und Lettenzeiten Menschen durch die Drogenhölle begleitete – sie waren ja auch froh, dass er ihnen Arbeit abnahm.
«Übermütig» sei er schon immer gewesen, ein richtiger «Zwänglianer», sagt er mit dem typisch Sieberschen Schalk im Nacken. Doch er habe immer genug Freiraum dafür bekommen; als Kind hat ihm den die Mutter gegeben, auch die Uitiker und Altstetter hätten ihn als Pfarrer gewähren lassen. Im Garten des Altstetter Pfarrhauses etwa lebten Dutzende Tiere, darunter vier Esel. «Leben, Leben, Leben» war das für ihn und seine Frau, mit der er acht Kinder aufzog.
Ein scheuer Bursche sei er gewesen, als sie ihn kennen gelernt hatte, erzählt seine Frau Sonja, Sieber nennt sie «mein Sünneli». «Das hat sich dann schwer geändert», schiebt sie nach und lacht. Aber damals habe sie den ersten Schritt machen müssen, bei der gemeinsamen Wanderung über den Albis. «Wenn sie mich nicht geschnappt hätte, wäre ich also mit abgesägten Hosenbeinen dagestanden», sagt er.
Botschaft braucht Show
Die Inszenierung, das hat Pfarrer Sieber früh gemerkt, entscheidet, ob eine Botschaft ankommt oder nicht. Die «manchmal etwas trockenen Dogmen» müsse man den Leuten schmackhaft machen. Das war nicht nur seiner Kirchgemeinde vorbehalten: Wenn er, der in jungen Jahren mit dem Gedanken gespielt hatte, Schauspieler zu werden, im Fernsehen das «Wort zum Sonntag» hielt, kamen selbst Religionsmuffel auf ihre Kosten. Auch im Nationalrat, wo er von 1991 bis 1995 die EVP, vor allem aber die Schwächsten der Gesellschaft vertrat, hielt er Reden wie ein geborener Entertainer, um einen Punkt zu illustrieren – gerne auch mit Requisiten. Wenn er von denkwürdigen Predigten spricht, dann tönt es so, als würde er ein Rockkonzert beschreiben, «das war eine Bombe, die Hütte ist schier auseinandergefallen».
Falsche Bescheidenheit sucht man vergebens. Bei ihm sei die Kirche immer voll gewesen, sagt er: «In Altstetten habe ich den Leuten jeweils noch auf der Kanzel Platz gegeben!» Zudem hoffe er also schwer, dass der Chef ihm, wenn es so weit ist, nicht sagt: «Hast nur ein bisschen so getan, als ob, Ernstli, gell.»
«Das Volk hat mich noch immer unterstützt. Und dafür bin ich unendlich dankbar.»
So tun, als ob – das kann man Pfarrer Sieber beileibe nicht vorwerfen. An die 35 Stationen für Obdachlose, Drogensüchtige, Kranke und andere auf der Schattenseite hat er errichtet, so den Pfuusbus, den Sune-Egge oder das Ur-Dörfli. Die von ihm ins Leben gerufene Stiftung Sozialwerke Pfarrer Sieber, in der er seit einigen Jahren nicht mehr operativ tätig ist, beschäftigt heute 170 Mitarbeitende. Für sein Schaffen wurde er vielfach geehrt, 2013 verlieh ihm die Stadt Zürich für sein Engagement das Staatssiegel.
Barmherzig auf Augenhöhe
Doch sein grösstes Vermächtnis gibt es noch gar nicht. Seit Jahrzehnten trägt er die Idee mit sich, ein selbsttragendes Dorf auf die Beine zu stellen, im Zentrum eine Kirche, rundherum ein paar Häuser, mit Bewohnern, die einander auf Augenhöhe begegnen, egal, welche Spuren eine schwierige Biografie bei ihnen hinterlassen haben mag. Von Barmherzigkeit, die durch ein Gefälle zwischen dem Helfenden und dem Hilfsbedürftigen geprägt ist, hält er nichts. «Zu einer neuen Zeit gehört, dass wir eine solidarische Gemeinschaft schaffen, die die Menschen auf der Schattenseite von ihrem Leiden befreit und ihnen ein Leben in Würde ermöglicht.»
Ob es ihm noch reicht, diesen Traum zu Lebzeiten zu erfüllen, weiss er nicht, er habe aber Gespräche mit der Zürcher Zentralkirchenpflege geführt, und um die Finanzierung macht er sich auch keine Sorgen. «Das Volk!», sagt er, «das Volk hat mich noch immer unterstützt. Und dafür bin ich unendlich dankbar.»
Nicht die Kosten zählen
Genug zu tun gebe es für ihn noch. Etwa die psychisch Kranken, «die nur als Kostenstellen und nicht als Menschen betrachtet werden», oder die Migranten, die hierzulande ein besseres Leben suchen. Aber auch eine zunehmende soziale Isolation registriert Sieber, die sich durch alle Schichten zieht. «Wir müssen den Neoliberalismus überwinden und die Einsamkeit überwinden», sagt er, «sonst wird es für uns als Gesellschaft schwierig.»
«Wir müssen den Neoliberalismus und die Einsamkeit überwinden»
Mit dem Zeitpunkt seines Ablebens kokettiert Pfarrer Sieber schon fast. Er sei bereit für den Moment, wenn der Chef ihn nach Hause hole, sagt er. Er habe aber auch noch einiges zu planen hier auf Erden und seine Freunde will er auch noch nicht im Stich lassen. Noch immer ist er täglich unterwegs, «nicht mehr im Ausmass von früher», aber immerhin. Fragen nach seiner Gesundheit schlägt er geschickt in den Wind, mehr als «wenn es mir schlecht ginge, würde ich das sicher nicht sagen» bringt man nicht aus ihm heraus. Vor einigen Jahren hat ihm das Herz zu schaffen gemacht, auch über Probleme mit dem Kreislauf wurde schon berichtet. Doch in seinem Wohnzimmer wirkt er lebhaft und wach wie eh und je – manchmal ein bisschen wirr vielleicht, doch das dürfte nicht viel mit dem Alter zu tun haben.
Diesem ist schon eher die Fülle von Anekdoten geschuldet, auf die Sieber im Laufe des Gesprächs immer wieder abdriftet. Manchmal tönt er sie auch nur an – «Ja du, Geschichten könnte ich erzählen…», sagt er immer wieder, lächelt gedankenversunken in sich hinein, schüttelt den Kopf. Mehrmals erinnert er sich an einen Bruder von der Schattenseite, den er im Sterben besucht hatte. Er gehe jetzt nach Hause, habe der ihm zum Schluss gesagt, «geh jetzt auch du heim. Aber pass auf, es hat Eis auf den Strassen.» Pfarrer Sieber hebt die dicken, weissen Augenbrauen, sagt lange nichts. «Was will man mehr? Sein wie Jesus, fertig, Punkt. Dann kommt es gut.»
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