
Das erfolgreichste Broadway-Musical der Gegenwart ist «Hamilton». Es handelt vom Leben Alexander Hamiltons, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika. Hamilton war Mitarbeiter George Washingtons im Unabhängigkeitskrieg, erster Finanzminister der Vereinigten Staaten, er starb nach einem Duell.
Die Frage ist, ob das in Brüssel beschlossene Hilfspaket so etwas wie ein Hamiltons Moment für Europa sein könnte.
Es gibt gute Gründe, sich in Europa mit Alexander Hamilton zu beschäftigen, besonders nach dem EU-Sondergipfel. Hamiltons Verdienst war es, dass die Zentralregierung die Schulden der 13 Einzelstaaten aus dem Krieg gegen England übernahm. Erst durch dieses Band der Solidarität wurde aus ein paar Siedlerrepubliken eine Nation, die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Frage ist, ob das in Brüssel beschlossene Hilfspaket von mehr als einer Billion Euro so etwas wie ein Hamiltons Moment für Europa sein könnte: Ob die Schulden, die die Europäische Kommission jetzt zur Finanzierung des Aufbaufonds aufnehmen darf, einen ähnlichen Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa bedeuten. Ob also Angela Merkel, Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen und Charles Michel die Hamiltons Europas sind.
Sicher: Einiges spricht klar dagegen, das Europa von heute mit dem Amerika von 1790 zu vergleichen. Virginia und New York mögen extrem unterschiedlich gewesen sein (sie sind es bis heute), aber ihre Bürger konnten sich immerhin in derselben Sprache unterhalten. Dieses Band fehlt im vielsprachigen Europa. Deshalb fehlt eine europäische Öffentlichkeit, in der schwierige Fragen der Finanzpolitik diskutiert werden könnten.
Ebenso wichtig: Anders als seinerzeit die amerikanische Regierung wird die Kommission in Brüssel zwar eigene Anleihen emittieren, nicht jedoch die Schulden der Mitgliedsstaaten übernehmen. Italien ist größter Nutzniesser der Hilfen, muss aber mit seinem hausgemachten Schuldenberg von mehr als 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts allein fertig werden.
Bald können die Finanzmärkte direkt über den Zustand Europas abstimmen.
Und nun Argumente dafür, die Sache mit dem Hamiltonian Moment doch ernst zu nehmen. Allein die Tatsache, dass es künftig Anleihen geben wird, die von der Kommission ausgegeben und von den Mitgliedstaaten garantiert werden, verändert viel. Damit können die Finanzmärkte direkt über den Zustand Europas abstimmen. Auf einem Kapitalmarkt, auf dem es weltweit an guten Anlagemöglichkeiten mangelt, könnten diese Anleihen sehr gefragt sein. Das schafft einen starken Anreiz, solide zu wirtschaften – je höher der Kurs, desto niedriger der Zins, der zu zahlen ist. Aus dieser Logik heraus könnte sich ein europäisches Finanzministeriums entwickeln, das vom Europäischen Parlament kontrolliert wird.
Eine weitere Parallele: Sowohl Hamilton als auch der Brüsseler Gipfel hatten es mit Problemen zu tun, mit denen die meisten Einzelstaaten überfordert gewesen wären. Bei Hamilton war es der Unabhängigkeitskrieg, der den früheren Kolonien einen gewaltigen Schuldenberg hinterlassen hatte. Jetzt in Brüssel ist es eine Pandemie, deren Folgen für die Wirtschaft alles bis vor kurzem Vorstellbare überschreiten.
Die Eigendynamik finanzpolitischer Entscheidungen ist nicht zu unterschätzen.
Dass es auf dem Brüsseler Gipfel soviel Bitterkeit und Hass gab, dass Polen und Ungarn sogar die Grundwerte der Union in Frage stellten, spricht nicht dagegen, Vergleiche mit den USA von 1790 zu ziehen. Auch unter den 13 Staaten gab es damals fundamentale Gegensätze. Der wichtigste und bitterste dieser Gegensätze betraf die Sklaverei. Vermont hatte sie 1777 als erster Bundesstaat abgeschafft, Virginia und die andere Staaten im Süden mit ihren Plantagen kämpften kompromisslos dafür.
Hamilton war Gegner der Sklaverei und besass auch niemals selbst Sklaven. Aber er verhinderte auch nicht, dass die Verfassung der USA (in ihrer ersten Fassung) die Sklaverei ausdrücklich zuliess. Damals wurden Spannungen geschaffen, die sich zwischen 1861 und 1865 in einem blutigen Bürgerkrieg entladen sollten.
Kein Thema, um das sich Europäer heute streiten, hat auch nur annähernd die Sprengkraft, die die Sklaverei seinerzeit in den USA besass. Umso mehr lohnt es sich, aus den Erfahrungen zu lernen und die Eigendynamik finanzpolitischer Entscheidungen nicht zu unterschätzen. Der Schriftsteller Mark Twain soll gesagt haben: «Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.»
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Analyse zur Zukunft der EU – Vereinigte Staaten von Europa
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