Sexskandal in der NHLWenn der Videocoach plötzlich Pornos zeigt
Die Chicago Blackhawks werden von einem bizarren Missbrauchsfall eingeholt, der den stolzen Traditionsclub nachhaltig erschüttern könnte.

Elf Jahre lang schien alles unter den Teppich gekehrt, doch nun sehen sich die Chicago Blackhawks gleichzeitig mit Klagen von zwei unabhängigen Parteien konfrontiert: Vorwürfe kommen von einem ehemaligen Spieler und von einem früheren Nachwuchsathleten im Bundesstaat Michigan. Der Grund ist derselbe: ein Videocoach der Blackhawks.
Die Geschichte beginnt 2010. Es ist das Jahr der Wiederauferstehung des Clubs. Die Blackhawks, eines der traditionellen «Original-6-Teams» der NHL, warten seit 49 Jahren auf einen Titel. Und die einst stolzen Blackhawks sind seit Jahren in einem desolaten Zustand, eignen sich nur noch für amüsante Mitleid-Storys: Wenn wegen ausbleibender Fans die Spieler am Bahnhof Gratis-Tickets verteilen müssen und diese nicht loswerden. Wenn der Geiz des steinreichen Besitzers Bill Wirtz dermassen wunderliche Blüten treibt, dass die Spieler die Ausrüstung nicht in der Sporttasche mit Clublogo, sondern im Müllsack ausgehändigt bekommen. Oder kein Geld für Verpflegung nach Auswärtsspielen da ist.
Als Wirtz 2007 starb, wurde er an seiner Gedenkfeier im nächsten Heimspiel posthum ausgebuht. So tief waren die Blackhawks gesunken.
Die Saison 2009/10: «Jung, dumm – und so viel Spass»
Doch 2010 ist nun alles anders. Bill Wirtz’ Sohn Rocky hat übernommen, er investiert, neue Spieler verändern das Gesicht der Blackhawks, vor allem Jonathan Toews und Patrick Kane. In seinem 2017 geschriebenen Buch beschreibt Journalist Mark Lazerus die Blackhawks von 2009/10 als letzte junge Wilde der NHL.
Weil das Team bemerkenswert jung ist, die wenigsten Spieler verheiratet sind und, wie es Lazerus beschreibt, wie eine Bande von Brüdern unter dem Motto «Jung, dumm – und so viel Spass» auftritt. Und weil die sozialen Medien noch nicht so dominant sind, um jeden feuchtfröhlichen Misstritt der Spieler zu dokumentieren.
Lazerus’ Buch, das zu einem Grossteil der Meistersaison von 2010 gewidmet ist, trägt den Titel «Wenn diese Wände sprechen könnten». Welch schreckliche Ironie, die dem Autor bei der Veröffentlichung natürlich nicht bewusst ist. Denn die Partysaison hat eine dunkle Seite. Deren Details werden erst jetzt, 2021, publik, sie finden sich in den beiden aktuellen Anklageschriften.
Der Hilferuf von zwei Spielern
Es ist Mitte Mai 2010, ein paar Tage vor Beginn des Playoff-Halbfinals. Zwei Spieler informieren Assistenzcoach Paul Vincent, für viele im Team eine Vertrauensperson, über unfassbare Vorfälle: Der Videocoach soll sie mit unangebrachten Kurznachrichten sexuell belästigt, Pornos statt Eishockey gezeigt, vor ihnen masturbiert und mit physischen und psychischen Konsequenzen gedroht haben, wenn sie nicht «mitspielten».
Vincent meldet dies umgehend Personen im Management sowie im Coaching Staff, damit der Club eine Anzeige tätigen kann. Es geschieht: nichts. Offensichtlich wollen die Blackhawks den potenziellen Meister-Run durch nichts gestört haben. Was noch mehr irritiert: Nicht bloss, dass auch nach dem Meistertitel die Polizei nicht eingeschaltet wird – der Videocoach ist Teilnehmer der Parade durch Chicago, sein Name wird auf dem Pokal eingraviert.
Nein, es wird noch unglaublicher: Die Blackhawks trennen sich danach elegant von ihrem Coach, indem sie ihm bei der Jobsuche helfen und, als er im Nachwuchshockey unterkommen könnte, positive Referenzen geben. Seine nächsten Stationen als Trainer werden Schulen, er wird aber bei der Arbeit mit Teenagern auch auffällig und wechselt mehrfach Arbeitgeber und Bundesstaat. Erst 2013 an einer Schule in Michigan fliegt er auf, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und gilt in jenem Bundesstaat seither als registrierter Sextäter.
Auch das 16-jährige Opfer von damals klagt
Es zerrt darum aktuell nicht nur einer der beiden damaligen Chicago-Spieler die Blackhawks vor Gericht. Die zweite Anklage kommt von einem damals 16-jährigen Missbrauchsopfer an der Highschool 2013. Er wirft den Blackhawks die Unterschlagung der dem Club offensichtlich bekannten Vorgeschichte vor. Drei ehemalige Blackhawks von 2010 haben kürzlich mitgeteilt, dass innerhalb des Clubs «alle» von den Vorfällen in der Meistersaison gewusst hätten. Ein weiterer Assistenzcoach bestätigt Vincents Version, alles gemeldet zu haben.
Der immer noch für die Blackhawks spielende Captain Toews sagt zwar, erst in der Saison danach von den Vorfällen gehört zu haben. Der mittlerweile zurückgetretene Brent Sopel hingegen fordert via Twitter unverhohlen Gefängnis für alle in der Teppichetage.
Nach anfänglichem Zögern haben die Blackhawks nun eine Anwaltsfirma mit einer Untersuchung beauftragt. Dass sie selbst die Kosten übernehmen, sorgt für Kritik, weil dies die Unabhängigkeit infrage stelle. Auch die NHL agiert nicht überhastet, sie will zunächst die Resultate abwarten.
Viele prominente Namen
Währenddessen fragt sich Nordamerikas Hockey-Welt, welche Konsequenzen diese Geschichte haben wird. Es sind prominente Namen unter den Führungspersonen der Blackhawks 2010: Stan Bowman, bis heute General Manager, ein Amt, das er bei Olympia 2022 auch fürs US-Team ausüben wird.
Headcoach Joel Quenneville, einer der prominentesten Eishockeytrainer, bei den Titeln 2013 und 2015 ebenfalls an der Bande Chicagos und seit 2019 die Florida Panthers coachend.
Besitzer Rocky Wirtz, Multimilliardär, Teil einer der reichsten Familien der USA und auch bekannt als finanzieller Unterstützer der Präsidentschaftskampagne Donald Trumps.
Sie alle und einige mehr sollen 2010 von den Vorfällen gewusst und geschwiegen haben.
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