Reals Champions-League-NiederlageWie Sheriff Tiraspol in Madrid den totalen Schock herbeiführte
Ein Luxemburger des moldauischen Meisters schiesst Real Madrid ab. Das lässt sogar zwei Rekorde von Karim Benzema zur Randnotiz werden.

Sébastien Thill ist 27 Jahre alt und Fussballprofi aus Luxemburg. Seit er 20 ist, steht er beim FC Progrès Niederkorn unter Vertrag: luxemburgische Liga, meistens irgendwo im Mittelfeld. Er hat ein paar Spiele in der Europa-League-Qualifikation gemacht, etwa gegen die Shamrock Rovers, den Budapest Honvéd FC oder die Glasgow Rangers. Immerhin.
Doch die ganz grossen Stadien kannte Thill nur aus dem Fernsehen. Sie gefallen ihm. Sonst hätte er die Champions League nicht unter seiner Haut verewigt, mit einer Tatöwierung, die die ganze Wade ziert. Sie zeigt ihn selbst, Rückenansicht, und in einer Gedankenwolke prangt der Champions-League-Pokal.
Im Januar liess sich Thill an Sheriff Tiraspol ausleihen. Mit den Moldauern spielte er sich durch alle vier Qualifikationsrunden der Champions League. Der Lohn: Der Club steht zum ersten Mal in der Geschichte in der Gruppenphase: Inter Mailand, Schachtar Donezk und Real Madrid. Die ganz grosse Bühne für Thill. Endlich.
Und auf dieser schiesst der zentrale Mittelfeldspieler am Dienstagabend Real Madrid ab. Es läuft die 89. Minute, nach einem Einwurf kommt der Ball zu Thill an der Strafraumgrenze. Er zieht mit links ab, Dropkick, Vollspann, ein bisschen Aussenrist, und der Ball fliegt zum 2:1 ins linke Lattenkreuz. Thill reisst sich das Leibchen vom Leib – noch nie hat sich eine Gelbe Karte besser angefühlt.
Thills Tätowierung ist also Wirklichkeit geworden. Er hat zwar nicht den Pokal gewonnen. Aber er ist jetzt der erste Luxemburger, der in der Königsklasse ein Tor erzielt hat. In diesem Moment ist der Spieler geboren, der er immer sei wollte.
Benzemas Rekord ist nur eine Randnotiz
Die spanische Sportzeitung AS schreibt: «Sheriff beendet die Flitterwochen von Ancelottis Mannschaft, die erst schläft und dann ziellos ist.» Und ihr Chefredaktor kommentiert: «Totaler Schock im Bernabéu. Unerklärlich.»
Real hat ein Spiel verloren, das es nie hätte verlieren dürfen. Die Spanier kamen 31-mal zum Abschluss, Tiraspol 4-mal. Real hatte 76 Prozent Ballbesitz, spielte dreimal so viele Pässe und hatte die deutlich bessere Passquote (89 zu 70 Prozent).
Angesichts der Niederlage Reals verkam es zur Randnotiz, dass Karim Benzema in der 65. Minute mit seinem Ausgleichstreffer zum ersten Spieler wurde, der in 17 Saisons in Folge in der Champions League getroffen hat. Es ist zudem sein 72. Tor in der Königsklasse, er überholt damit Reals Legende Raúl.
Wo geht die Reise für Tiraspol hin?
Und der FC Sheriff Tiraspol? Der liegt mit zwei Siegen aus zwei Spielen an der Tabellenspitze. In der ersten Runde hatten die Moldauer Donezk 2:0 bezwungen. Alles sieht danach aus, als würde Tiraspol zumindest Dritter werden und damit in der Europa League weitermachen – doch auch der Champions-League-Achtelfinal ist nicht mehr undenkbar.
In einem Interview mit dem «Kicker» sagte Trainer Jurij Wernydub: «Ich sage meinen Leuten ständig: Wir sind schon in der Champions League, ihr habt doch nichts zu verlieren, sondern könnt euch auf der grössten Bühne präsentieren. Aber geniessen kann man so etwas auch nur, wenn man perfekt vorbereitet ist.»
Der Genuss geht weiter: am 19. Oktober auswärts gegen Inter Mailand. Sébastien Thill ist dann auch wieder dabei. Der Mann, der die Champions League auf seiner Wade trägt. Und seit kurzem auch im Lebenslauf.
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