Die Schweiz im Land der Hobby-Fussballer
Für Gibraltars Nationalspieler ist Fussball ein Hobby. Sie behalten auch in der Niederlage ihren Humor – wie Captain Roy Chipolina.

Ach, das Alter, wen kümmert das schon! Roy Chipolina ist 36, manchmal spürt er die Knochen, aber noch nie hat er einen Gedanken daran verschwendet, den Aufwand für sein Hobby zu reduzieren. Also steht er regelmässig um 6.30 Uhr auf, um während 40 Minuten seinen Körper mit Übungen in Schwung zu bringen. Ab 8 Uhr sitzt er im Büro der Zollverwaltung, gegen Abend fährt er hinüber auf spanischen Boden, um im Grenzort La Linea de la Concepcion mit den Kollegen des Lincoln Red Imps FC zu trainieren. Um 21 Uhr ist Feierabend. Chipolina sagt: «Für mich ist nichts zu viel, wenn es um Fussball geht. Ich lebe meinen Traum.»
Chipolina ist im Weltfussball keine Berühmtheit, aber im Kleinen ein Held. Er ist Captain der Gibraltarer, die erst seit 2013 zur Uefa und seit drei Jahren zur Fifa gehören. In der EM-Qualifikation 2016 und der WM-Ausscheidung 2018 gab es in 20 Spielen 20 Niederlagen bei 5:103 Toren.

In der laufenden EM-Ausscheidung kommen 7 Niederlagen mit 2:25 Toren dazu. Chipolinas Humor leidet deswegen nicht. «2014 verlor Brasilien gegen Deutschland 1:7, wir nur 0:4», sagt er, «das heisst ...?» Er zieht die Augenbrauen hoch: «Wir sind besser als die Brasilianer.» Schallendes Gelächter. Gibraltar ist die Weltnummer 196, hinter Guam und vor Somali.
«Ich werde nie weggehen»
Chipolina kommt von der Arbeit, er hat das Hemd gegen ein Shirt mit Gibraltars Wappen auf der Brust getauscht. Er sitzt in einem Konferenzraum des Verbandes, der in Irish Town daheim ist, einer Fussgängerzone Gibraltars. In London kam er zur Welt, Arsenal ist der Club seines Herzens, aber Gibraltar ist seine Heimat, die er so sehr liebt, dass er sagt: «Ich werde von hier nie mehr weggehen.»
Das Land ist ein Ländchen, britisches Überseegebiet am südlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel, knapp 7 Quadratkilometer gross, 34 000 Einwohner, sein Markenzeichen ist ein mächtiger Fels, auf dem über 200 Berberaffen leben. Wer Gibraltar besucht, taucht in eine englisch gefärbte Welt ein: rote Telefonkabinen wie in London, Polizisten mit dem klassisch-englischen Helm, doppelstöckige Busse, englisch angeschriebene Verkehrstafeln, bezahlt wird mit Pfund. Nur der Rechtsverkehr passt nicht ganz ins England-Bild.

Wer den Zoll passiert hat, überquert auf der Winston Churchill Avenue als Erstes das Rollfeld des Flughafens und erreicht als Nächstes das Victoria Stadium – die Stätte, in der alle 13 Clubs ihre Liga-Spiele auf Kunstrasen austragen. Das öffentliche Interesse an solchen Ereignissen ist überschaubar. 100, 200 Zuschauer – so sieht die Normalität aus.
Da zieht die Nationalmannschaft schon mehr. Wenn sie spielt, füllen 2000 Menschen das Stadion. Sie sind stolz, wenn sie Fussballer sehen, die sich gegen Grosse wehren. Sie sind stolz auf Spieler wie Roy Chipolina, der schon 17-mal Meister mit Lincoln wurde, aber in Gibraltars Sporthistorie einen Stammplatz hat, weil er am 1. März 2014 beim 1:4 gegen die Färöer das erste Tor in einem offiziellen Länderspiel erzielte. Chipolina ist als Innenverteidiger schon manchem Prominenten begegnet, er hat Trikots von Eden Hazard und Robbie Keane daheim, von Romelu Lukaku und Bastian Schweinsteiger und eines von Robert Lewandowski. Keiner hat ihm die Grenzen deutlicher aufgezeigt als der Pole. In der EM-Qualifikation schoss der einmal vier und einmal zwei Tore gegen Gibraltar. Als er im zweiten Spiel ausgewechselt wurde, dachte Chipolina: «Danke, lieber Trainer von Polen, danke!»
Chipolina steht für das, was Gibraltars Fussball prägt: Idealismus. Wenn es auf Reisen geht, nehmen die Amateure Ferien; wenn für Chipolina ein Spiel ansteht und er zufällig Pikettdienst hat, muss er für drei Stunden einen Ersatz suchen. Ihn stört das so wenig wie despektierliche Zeilen in Zeitungen: «Was wollen die Kicker von Gibraltar? Wie hoch verlieren sie heute?» Er sagt: «Es motiviert uns. Und wenn wir verlieren, dann mit Anstand. Wir wollen in der Niederlage Grösse zeigen.»
Der Generalsekretär freut sich über die neue Denkweise
Es sind kleine Fortschritte, an denen sie sich in Gibraltar erfreuen. «Wir wollen unser Land auf die Karte des grossen Fussballs bringen», sagt Dennis Beiso, 41-jähriger Generalsekretär des Verbandes und Fan von Manchester United. Auf den Unterarmen hat er die Namen seiner Kinder tätowiert, Katie und Alex, im Kopf hat er Ideen, wie sich der einheimische Fussball entwickeln kann. Es gilt die Regel, dass in der Meisterschaft pro Team immer mindestens vier Spieler mit gibraltarischem Pass auf dem Platz stehen müssen, die Quote wird bald auf fünf erhöht. «Davon profitiert die Nationalmannschaft», sagt Beiso, der sich an eine Situation erinnert, die ihn den Kopf schütteln lässt: «Als wir 2017 gegen Belgien spielten, war keiner der drei aufgebotenen Goalies in seinem Club die Nummer 1. Das darf nicht mehr vorkommen.»

Für Beiso war es bis im Sommer 2018 selten ein Vergnügen, dem Team zuzusehen. Ihm missfiel die Denkweise: «Wenn wir auf den Platz gingen, fragten wir uns: Wie hoch verlieren wir wohl?» Aber dann kam Julio Ribas, ein Trainer aus Uruguay, der zuvor Lincoln coachte. Beiso meldet zufrieden: «Er verlangt eine andere Körpersprache. Jetzt lassen die Spieler nach einem Gegentor die Köpfe nicht mehr hängen.» Unter Ribas erlebte Gibraltar im Oktober des vergangenen Jahres die aufregendsten Momente der Geschichte: 1:0 in Armenien, 2:1 gegen Liechtenstein – zwei Siege innert drei Tagen in der Nations League. «Ich kann Ihnen sagen: Es war grossartig», sagt Beiso mit glänzenden Augen.
17 Angestellte arbeiten für den Verband, dem es finanziell gut geht, seit er Uefa- und Fifa-Mitglied ist. 2020 wird das Victoria Stadium abgerissen und ein neues gebaut, 4000 bis 5000 Plätze, «mehr brauchen wir nicht», sagt Beiso. Die Schweiz wird jetzt noch im alten Stadion empfangen. Der Generalsekretär träumt von einem Coup: «Das jetzige Stadion ist für Gäste relativ ungemütlich. Wer weiss ...»
Lincolns Clubpräsident als Verteidiger – sonntags in der Bar
In Gibraltars Clubfussball dominieren die Red Imps, die Teufelchen. Ihre Geschäftsstelle liegt in einem Industriequartier im ersten Stock. Ein Mann mit gelber Weste und kurzen Hosen gibt mit rauchiger Stimme den Ton an, er regelt gerade eine Transferformalität, dann stellt er sich vor: «Dylan Viagas, Präsident von Lincoln.» Im gewöhnlichen Leben führt der 42-Jährige ein Lastwagen- und Baggerunternehmen, daneben wirbelt er für die Red Imps. Der Meister erhält von der Uefa 490 000 Euro, weil er an der Qualifikation für einen europäischen Wettbewerb teilgenommen hat. So kann sich Lincoln die Jahresmiete von 50 000 Euro für einen Trainingsplatz im spanischen La Linea leisten. Die Subvention ist existenziell. «Wir haben keinen TV-Vertrag, keinen Liga-Sponsor und keine Ticketeinnahmen», sagt Viagas. Zuschauer bezahlen für Liga-Spiele keinen Eintritt.

Lincolns Fussballer werden entlöhnt, 1000 bis 1500 Euro pro Monat sollen es sein. Das lockt viele Spanier, Portugiesen und Südamerikaner an. An der Wand der Geschäftsstelle hängt eine hölzerne Trophäe mit Messingschildern, auf denen die Namen der Meister verewigt sind. «Wir müssen den Titel wieder holen», sagt Viagas, «sonst können wir irgendwann die Löhne nicht mehr zahlen. Es sei denn, wir finden einen Investor. Haben Sie vielleicht einen?»
Darum fordert er positive Resultate. Hat er schon Trainer entlassen? «Ja.» Wie viele? Er fragt die zwei Angestellten: «Drei? Fünf?» – «Zwei.» Viagas sagt: «Wir haben zwar eine kleine Amateurliga, aber im Fussball funktionieren wir nicht anders: Die Ergebnisse zählen.» Viagas hat früher selber für Lincoln gespielt, heute ist er «nur noch linker Verteidiger – am Sonntag in der Bar», sagt er und lacht schallend. Als Präsident verfolgt er vor allem eine Ambition, die wie eine Illusion klingen mag: «Als Fan von Liverpool wünsche ich mir nichts mehr, als dass eines Tages ein Gibraltarer dort spielt, den wir ausgebildet haben.»
Der Meisterschaftsbetrieb in Gibraltar läuft. Eigentlich. An einem Mittwoch im Juni stottert er. Der Lynx FC ist zuerst dran, er demontiert den Europa Point FC Gibraltar 5:0. Und dann … sollte der Europa FC gegen Olympiakos antreten. Aber: Nichts passiert. Olympiakos hat sich erst drei Stunden vor dem Anpfiff abgemeldet: zu wenig Spieler.
Am anderen Abend steht Lincoln im Einsatz, der Meister muss eine Antwort finden auf ein 1:4 zum Saisonstart. Er gibt sie mit einem 8:0 gegen den Glacis United FC und kann es sich leisten, Roy Chipolina zu schonen. Auch Lee Casciaro fehlt, der am 29. September schon 38 wurde. Er ist der Stürmer, der beim 1:6 gegen Schottland in der EM-Qualifikation 2016 Gibraltars ersten Treffer in einem Wettbewerbsspiel erzielte. Und der ein paar Monate später Lincoln mit seinem Tor zu einem triumphalen 1:0 gegen Celtic Glasgow in der Champions-League-Qualifikation führte.
Der Stürmer, der vergeblich auf ein Angebot wartet
Casciaro arbeitet bei der Militärpolizei, oft ist er vor der Küste auf dem Schiff unterwegs. Der Fan von Manchester United ist in Irish Town aufgewachsen, gleich vis-à-vis des Verbandssitzes, und wenn er von Gibraltar redet, schwärmt er. «Es gibt kein besseres Leben als hier: Strand, freundliches Klima, kaum Arbeitslosigkeit, gute Löhne, einen Flughafen, und alles ist in wenigen Minuten zu erreichen», sagt er, «ich war schon in vielen Ländern, aber glauben Sie mir: Das hier, das ist das Paradies.» Verlassen würde er es höchstens, wenn ein Club aus China ihm zehn Millionen Pfund Jahreslohn böte: «Dann hätte ich ausgesorgt. Aber ich bin ein Nobody, darum ist es kein Thema.»

Noch lange will er Fussball spielen, «so lange halt, wie mich die Beine tragen», sagt er, der – wie Chipolina auch – Robert Lewandowski für den besten Spieler hält, dem er je begegnet ist. Bei der 0:4-Niederlage im September in Sitten fehlte er verletzungsbedingt. Beim Rückspiel am Montag in der Heimat sollte er dabei sein. «Zu Hause können wir Überraschungen schaffen. Der Gegner muss sich mit ungewohnten Bedingungen abfinden», sagt er. Zum Beispiel? «Vielleicht kommt beim Duschen kaltes Wasser, wenn man heiss einstellt ...»
Casciaro ist so unbeschwert und unkompliziert wie Teamkollege Chipolina oder Generalsekretär Beiso. Bevor er geht, sagt er: «Wenns noch Fragen gibt: einfach anrufen.» Gut. Und die Handynummer? «Steht im Telefonbuch.» Tatsächlich. Sein Whatsapp-Profilbild zeigt ihn als Nationalspieler – im Duell mit Robert Lewandowski.
Dieser Artikel erschien bereits Anfang September, als Gibraltar in der EM-Qualifikation in der Schweiz zu Gast war.
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