
Europa im Herbst 1945, das ist ein Gräberfeld, Millionen Menschen sind versprengt, verwirrt, verstört und allein auf Erden zurückgeblieben. Inmitten dieses Chaos haben die Alliierten im grössten Gerichtssaal des Nürnberger Justizpalasts eigens eine Wand eingerissen, um Platz für die Weltpresse zu schaffen, und sie bereiten dort die Bühne nicht nur für eine Erforschung von individueller Schuld. Sondern für eine Demonstration.
Der Prozess hat sich ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben.
Die 24 Männer, die sie dafür auswählen, bilden einen Querschnitt durch die Elite des Regimes. Diese Angeklagten stehen stellvertretend für jene Kräfte, die aus Sicht der Ankläger Europa in den Abgrund gerissen haben. Ihre Gruppe ist genau austariert: Nicht nur Nationalsozialisten sind darunter, sondern auch alte Nationalkonservative, Hitlers Steigbügelhalter – und nach längeren internen Diskussionen haben die Alliierten beschlossen, auch die Geldgeber und Industrieführer des NS-Systems mit auf die symbolträchtige Anklagebank zu setzen, repräsentiert durch zwei Banker und einen Rüstungsmagnaten.
Die Nürnberger Miniatur aus 24 Angeklagten ist klein genug, um Übersichtlichkeit zu schaffen. Und sie ist eindringlich genug, um sich ins kollektive Bewusstsein und Gedächtnis einzuprägen. Anders als in späteren Jahrzehnten etwa die Mammutprozesse gegen weitaus unübersichtlichere 164 Kriegsverbrecher aus dem zerfallenen Jugoslawien in Den Haag ist der Nürnberger Prozess so fokussiert wie möglich. Und er ist, trotz seines Umfangs, von der ersten Minute an präzis auf eine Botschaft zugespitzt.
Niemand steht über dem Gesetz. Niemand, kein Baron, kein General, kein Gottdiktator und kein Milliardär: Es ist ein grosser Moment der Weltgeschichte, als dies im Nürnberger Saal erstmals plastisch und greifbar wird. Es ist revolutionär, als etwa Hermann Göring, der einstige NS-Reichsmarschall, dem Beobachter John Dos Passos nur noch als «halb leerer Luftballon» erscheint, «der zu schnell und zu viel an Gewicht verloren hat».
Es ist eine Idee, auf deren Grundlage in späteren Jahrzehnten auch Slobodan Milosevic, Saddam Hussein und Liberias Diktator Charles Taylor vor Gericht gestellt werden – aufgeblasene Figuren allesamt, plötzlich auf das Normalmass von Menschen zusammengeschrumpelt – und die, so hofft man, einst auch der Syrer Bashar al-Assad kennen lernen wird.
Die grosse Idee von damals Wirklichkeit werden zu lassen, das ist der wichtigste Kampf für Menschenrechtler.
Es sind Menschen, die so mächtig gewesen sind, dass sie ihre Gesetze selbst machen und später auf die vordergründige Legalität ihres Handelns verweisen konnten. Die Antwort, die ihnen in Nürnberg gegeben wird, lautet: Nein. Es gibt Verbrechen von solch universeller Eindeutigkeit, dass kein staatliches Gesetz es vermag, sie zu legalisieren. Über jedem Gesetz stehen noch die Menschenrechte. Dies war bis 1945 eine Idee aus dem Elfenbeinturm. In Nürnberg wurde sie Wirklichkeit.
Oft ist diese Idee seither verraten worden. Von der Sowjetunion sowieso, von den USA ebenso. Auch von den Mächtigen in Europa wird die Idee heute mitunter verraten. Etwa wenn man zur Abwehr von Flüchtlingen Deals mit Diktatoren schliesst. Wenn es um lukrative Waffengeschäfte geht, dann ist den Europäern auch der Kronprinz Saudiarabiens, der laufend Kriegsverbrechen im Jemen befehligt, als Kunde recht.
Und doch: Nürnberg war ein Anfang, von Nürnberg bleiben eine Hoffnung und ein Anspruch, den Menschen seitdem weltweit einfordern. Die grosse Idee von damals an verschiedenen Orten der Welt Wirklichkeit werden zu lassen, das ist heute der wichtigste Kampf für Menschenrechtler.
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Kommentar 75 Jahre Nürnberger Prozesse – Wirklich niemand steht über dem Gesetz
Die Idee ist so simpel wie revolutionär. Vor genau 75 Jahren begann sie von Nürnberg aus die Welt zu erobern.