Sucht und Drogen im UnterlandWurde im Lockdown wirklich weniger getrunken? Vieles ist noch unklar
Am Freitag ist Weltdrogentag – Zeit für eine Zwischenbilanz. Das Thema ist komplex, wie die Suchtprävention Zürcher Unterland und die Fachstelle Sucht Bezirk Dielsdorf zeigen.

Geschlossene Bars, Restaurants und Ausgehmeilen: Der Lockdown hatte auch Auswirkungen auf den Alkoholkonsum in der Schweizer Bevölkerung. Durchschnittlich wurde zwar weniger getrunken – die Suchtpräventionsstelle ist dennoch vorsichtig. Jene Menschen, die vorher schon unter schwierigen Bedingungen gelebt hatten, waren jetzt nämlich besonders gefährdet. Nun wagen die Suchtprävention Zürcher Unterland sowie die Fachstelle Sucht des Bezirks Dielsdorf ein Zwischenfazit – in fünf Punkten.
Ob im Lockdown wirklich weniger getrunken wurde, ist unklar
Ende Mai war der Tenor in den Medien: Die Schweizer Bevölkerung trank in der Corona-Krise weniger Alkohol. Die Branche verzeichnete bei Wein, Bier und Schnaps einen Umsatzeinbruch. Doch Sven Anders, stellvertretender Stellenleiter der Suchtprävention Zürcher Unterland, rät zur Vorsicht: «Aufgrund solcher Zahlen kurzfristige Rückschlüsse zu ziehen, ist oft schwierig, wenn nicht unzureichend. Der Alkoholkonsum könnte insgesamt sinken, weil die Ausgehmöglichkeiten eingeschränkt waren. Er könnte sich aber auch einfach in den Privatbereich verschoben haben – oder dort gar ansteigen, weil die Leute im Lockdown etwa mehr Zeit hatten, und Wein oder Bier am Abend hilft, herunterzukommen.» In der Global Drug Survey (GDS) heisse es in einer ersten Auswertung, dass der Alkoholkonsum gemäss Umfrage leicht angestiegen sei und rund 40 Prozent der 40’000 Befragten angaben, häufiger zu trinken als zuvor.
Die Gründe für mehr Alkohol im Lockdown-Alltag zählt Anders auf: «Die Isolation, weniger soziale Beziehungen, man sass in der Familie aufeinander und hatte Homeschooling, wirtschaftliche Sorgen und Ängste – und nicht zuletzt Langeweile. Das können Gründe sein, um im Alkohol eine Bewältigungsstrategie zu suchen.» Auch Rachel Osterwalder, Stellenleiterin der Fachstelle Sucht Bezirk Dielsdorf, weiss um die Schwierigkeiten: «Es war echt verrückt, was im öffentlichen Leben plötzlich alles nicht mehr möglich war. Durch diesen Verlust wurden Suchtmittel attraktiver; sie helfen, die Zeit zu überbrücken und die Einsamkeit weniger zu spüren.»
Einige Personen sind jetzt umso anfälliger für eine Sucht
«Nicht alle Menschen haben das gleiche Risiko, während des Lockdown ein problematisches Konsumverhalten zu entwickeln», sagt Rachel Osterwalder. «Wer davor schon einsam war oder zurückgezogen lebte, wer also nicht in die Gesellschaft integriert ist, ist umso anfälliger für eine Suchtentwicklung.» Das bestätigt Sven Anders: «Personen, die vorher psychische Erkrankungen hatten, die zu viel oder regelmässig konsumiert haben oder die finanziell und sozial wenige Ressourcen haben, gehören zur Risikogruppe.»
Die Suchtstelle Bezirk Dielsdorf, die auch schon vor Corona ausgelastet war, erlebte eine Zunahme an Kontaktaufnahmen. Auch, weil sie vor dem Lockdown eine Hotline eingerichtet hatte, bei der sich Menschen melden können, die sich wegen ihres Konsums Sorgen machen. «Unsere Hoffnung ist, dass wir so die Spitze des Problems entschärfen können», sagte Osterwalder im März gegenüber dieser Zeitung. «Wir können mit einem Telefongespräch sicher nicht ein Alkoholproblem lösen. Aber wir können vielleicht in einer Situation, wo jemandem die Decke auf den Kopf fällt, das Schlimmste verhindern.»
So haben die Suchtstelle und die Suchtprävention reagiert
Die Hotline der Suchtstelle Bezirk Dielsdorf sei auf eine sehr positive Resonanz gestossen. «Der Vorteil war sicher auch, dass die Hemmschwelle, sich auf diesem Weg bei uns zu melden, tiefer war als mit einem Termin», erklärt Osterwalder. Buch geführt über die Anzahl Anrufe habe sie nicht, es habe sich aber vorwiegend um Personen zwischen 30 und 65 Jahren gehandelt.
Die Suchtprävention Zürcher Unterland wiederum hat auf ihrer Website verstärkt Artikel publiziert, die Hilfestellungen im Alltag bieten sollten. «Da wir den persönlichen Kontakt nicht mehr bieten konnten, wollten wir Informationen so breit wie möglich streuen», so Anders. Ausserdem habe die Präventionsstelle den Kontakt zu ihren Schlüsselpersonen übers Internet weiter gepflegt. «Schlüsselpersonen sind für unsere Arbeit zentral, da sie mit einzelnen, teils auch schwer erreichbaren Zielgruppen in Kontakt sind, so etwa in der Jugendarbeit oder auch mit der migrantischen Bevölkerung», erklärt Anders.
Die Suchtfrage geht über Alkohol hinaus
Zwischen 70 und 80 Prozent der Fälle in der Suchtstelle Bezirk Dielsdorf betreffen den Alkohol. Doch den Fokus allein darauf zu legen, wäre falsch. «Der digitale Medienkonsum hat im Lockdown massiv zugenommen», betont Anders. Social Media, Videospiele, Onlineshopping, Glücksspiele – das sind alles Themen, die man nicht vergessen darf. Gerade die veränderte Gesetzgebung für Schweizer Online-Casinos alarmiert die Suchtexpertinnen und -experten. Denn: «Die Casinos machen enorm viel Werbung. Auch die Fachstelle für Glücksspielsucht hat deshalb einen deutlich höheren Aufwand», sagt Anders.
Grundsätzlich gilt wie bei jedem Suchtmittel: Das Mass des Konsums und die Bedeutung im Alltag ist relevant. «Durch die Dopaminausschüttung können diese Aktivitäten aber problematische Dimensionen annehmen», so Anders. Dopamin löst Glücksgefühle aus. Dies führt zum Wunsch der Wiederholung einer Tätigkeit, die bereits einmal zu einer Belohnung geführt hat; der Botenstoff gehört zum Regulations- und Belohnungssystem des Gehirns. Suchtstoffe wie Alkohol verändern jedoch die Funktion solcher Botenstoffe – und damit die Wahrnehmung.
Die guten Nachrichten zum Schluss
Osterwalder und Anders ziehen jedoch auch ein positives Fazit. Beide sagen, dass der Lockdown viele Menschen auch dazu verführt hat, Alternativen zu finden, um sich in der ungewohnten Situation zu entspannen. «Spaziergänge beispielsweise oder Sport waren plötzlich wieder sehr beliebt, weil die Leute Zeit dafür hatten – als Alternative etwa zum schnellen Feierabendbier», sagt Anders. Das könne er aus eigener Erfahrung sagen: «Der Wald war plötzlich voller Leute, die laufen oder joggen gegangen sind.» Es sei deshalb wichtig, den Lockdown nicht nur zu problematisieren.
Auch Osterwalder hat diesbezüglich Positives zu bemerken: «Das hat man sich am Anfang zwar nicht so überlegt – aber beispielsweise sagen viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, dass es weniger Ausfälle gab und die Arbeitsqualität sogar gestiegen ist.»
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